Neue Lieder

Die Spaltung in der palästinensischen Gesellschaft von jörn schulz

Kurz vor seinem Auftritt in Nablus bekam der palästinensische Sänger Amar Hassan in seinem Hotel Besuch. Mitglieder der al-Aqsa-Märtyrerbrigaden forderten ihn auf, die Liebeslieder aus seinem Programm zu streichen. Da Hassan sich weigerte, warfen sie Blendschockgranaten auf die 6 000 Zuhörer und schossen in die Luft; das Konzert musste abgebrochen werden.

Der Angriff auf die Musikveranstaltung im Juli war eines der spektakulärsten Beispiele für den Kulturkampf in den palästinensischen Gebieten. Die Islamisten, aber auch viele Nationalisten der al-Aqsa-Brigaden, die der Fatah nahe stehen, wollen Veranstaltungen verhindern, die die Geschlechtertrennung oder den Kampfeswillen untergraben könnten. »Es gibt Elemente vom Typus der Taliban in unserer Gesellschaft, und das ist ein sehr gefährliches Zeichen«, kommentierte der Dichter Mahmoud Darwish.

Amman und Darwish sind palästinensische Nationalisten, ebenso wie die Rapper von PR aus Gaza. »Das Notizbuch, der Pinsel und die Musik sind Waffen«, sagt Amman. Sie kritisieren jedoch den Versuch militanter Gruppen, der Gesellschaft eine puritanische Moral aufzuzwingen. Andere Gruppen haben begonnen, die nach dem Beginn der al-Aqsa-Intifada abgebrochenen Kontakte zu israelischen Friedensgruppen wieder aufzunehmen. Der seit längerem von gemäßigten Intellektuellen propagierte Übergang von Gewaltaktionen zu friedlichen Protestformen scheint eine Basis in der palästinensischen Bevölkerung zu gewinnen.

Andererseits war die Hamas bei den Kommunalwahlen in der Westbank sehr erfolgreich. Bei den Wahlen spielen auch die Korruption der Autonomiebehörde, die Beliebtheit lokaler Politiker und Clanstrukturen eine Rolle, doch ein großer Teil der palästinensischen Bevölkerung scheint zu Kompromissen mit Israel nicht bereit zu sein.

Zudem haben die militanten Gruppen an Macht gewonnen. In den palästinensischen Gebieten ist eine Kriegsökonomie entstanden, indirekt gefördert durch die Überweisungen europäischer und arabischer Staaten, die Arafat überwiegend an bewaffnete Gruppen verteilte. In diesen Milizen ist nicht nur der Antisemitismus weit verbreitet, die zahlreichen Warlords haben auch ein finanzielles und politisches Interesse an einer andauernden Konfrontation. Angesichts dieses unübersichtlichen Kräfteverhältnisses ist es kaum vorhersehbar, wie sich die Machtstruktur in Gaza nach dem israelischen Rückzug entwickeln wird.

Sobald der Rückzug abgeschlossen ist, wird sich die israelische Regierung der Frage stellen müssen, wie der Friedensprozess weitergehen soll. Ministerpräsident Ariel Sharon befürwortet zwar einen palästinensischen Staat, hat bislang jedoch die Annexion großer Teile der Westbank vorgesehen. Vizeministerpräsident Shimon Peres von der Arbeitspartei will einige Siedlungsblöcke in der Umgebung Jerusalems annektieren, strebt jedoch eine weitgehende Räumung der Westbank an. Welche Position die israelische Öffentlichkeit mehrheitlich unterstützen wird, dürfte maßgeblich davon abhängen, ob es nach dem Rückzug von Gaza aus Angriffe auf Israel gibt.

Bei den bisherigen Friedensplänen wurden die schwierigsten Probleme immer ausgeklammert. Diesmal kommt der schwierigste Teil zuerst, denn in Gaza sind Islamisten und nationalistische Extremisten weitaus stärker als in der Westbank. Das ist ein riskantes Experiment. Andererseits aber würde der Friedensprozess, ob mit Sharon, Peres oder einem anderen Ministerpräsidenten, wieder in Gang kommen, wenn das palästinensische nation building in Gaza gelingt.