Chaos von oben

Bundestagswahl 2005 von richard gebhardt

Es war die Stunde der Strategen, Kaffeesatzleser und Rechenkünstler, die am vergangenen Sonntag angesichts des »Koalitionsrätsels« ihren großen Auftritt hatten. Selbst erfahrene Wahlanalytiker und politische Kommentatoren mutierten bei all den möglichen Konstellationen flugs zu Chaosforschern, die die neueste Unübersichtlichkeit und Ratlosigkeit unter der Reichstagskuppel auf den Punkt bringen wollten. And the winner is – die Große Koalition, die »Jamaika-Koalition«, die Ampel … Nichts geht mehr, jedenfalls nichts mit eindeutigem Mandat.

Tatsächlich herrschte selten an einem Wahlabend solch eine Konfusion wie nach den Hochrechnungen, die das vorläufige Ergebnis der Bundestagswahl 2005 vorwegnahmen: Die Wahl hat keinen klaren Gewinner. So erschienen die Spitzenkandidaten von SPD und Union beide als Verlierer, die sich unter dem Druck der Ereignisse zum Sieger kürten. Die Pleitiers der Volksparteien mussten sich selbst die Kreditfähigkeit bescheinigen. Gerhard Schröder und Angela Merkel entdecken deshalb den Charme des »Scheiterns als Chance«: Kanzler wird, wer die eigene Niederlage am kreativsten umdeutet.

Dabei sah zunächst alles ganz anders aus. Die Wahlkampfporträts von Schröder glichen bereits Nachrufen, die im weihevollen Ton seine »historischen Verdienste« würdigten und den Focus auf die künftige Kanzlerin Merkel richteten. Der Druckfehlerteufel ließ die Süddeutsche Zeitung »Mehrheitsverhältnisse für Schwarz-Geld« prognostizieren, als deren Ergebnis der steuerpolitische »Visionär« Paul Kirchhof Finanzminister werde.

Es reichte nicht. Kanzlerkandidatin Angela »Maggie« Merkel, die schon zur deutschen Iron Lady erklärt wurde, wirkte in der traditionellen »Elefantenrunde« derart lädiert, als sei sie bereits abgesetzt und als seien die nächtelangen Verhandlungen zur Großen Koalition unter ihrer Regentschaft vollends gescheitert. Der längst abgeschriebene Gerhard Schröder dagegen bot mit seinem enthemmten Auftritt großes Tennis. Medienarbeiter, die mit dem aus dem US-Wahlkampf der Republikaner geklauten Slogan »Politik ist der neue Sex« für ihre Fernsehduelle und Features geworben haben, werden weiter ihre helle Freude am »Medienkanzler« haben. Wer aber auf Merkels »Durchregieren« hoffte, zeigte sich entsetzt. »Aus Sicht der Industrie und Wirtschaft sind wir bitter enttäuscht«, gab Jürgen Thumann vom BDI zu Protokoll. Der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske wiederum entdeckte hoffnungsvoll eine »Mehrheit links der Mitte«.

Doch auch wenn trotz des propagandistischen Aufwands der veröffentlichten Meinung und der kapitalfinanzierten »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« eine konservative und wirtschaftsliberale Hegemonie nicht hergestellt werden konnte, führt die Linke faktisch einen Abwehrkampf. Dass die Niederlage von Schwarz-Gelb als Sieg gefeiert wird, zeigt, wie bescheiden die Ziele geworden sind. Die oft bemühten außerparlamentarischen Bewegungen waren im Wahlkampf kaum wahrnehmbar und ein entschiedener Protest gegen die verordneten »Zumutungen« war nicht existent. Das könnte sich ändern, wenn eine Große Koalition die weitere Loslösung von der SPD forciert und von linker Programmatik nicht mehr nur die Forderung nach Stärkung der Binnennachfrage wahrgenommen wird.

Diese Wahl zeigt eine Fragmentierung der politischen Lager, sie liefert aber kein Indiz für einen grundsätzlichen Widerspruch gegen die »Reformen«. Gestritten wurde nur über den Härtegrad ihrer Durchsetzung.