Prima, lustig, toll
Otto ist der Dicke, der dauernd isst und auch in den unmöglichsten Momenten ein Butterbrot aus der Tasche zieht. Georgs Vater ist reich und kauft seinem Sohn alles, was er sich wünscht, und ein wenig ungerecht ist das schon. Franz ist stark und haut jedem eins mit der Faust auf die Nase. Nur Adalbert nicht, denn der trägt eine Brille und ist der Liebling der Lehrerin. Rolands Vater ist Polizist, Max ist groß und hat immer schmutzige Knie, und Chlodwig ist der Schlechteste in der Klasse.
Das ist das Stammpersonal in den Geschichten des kleinen Nick, das sind seine Klassenkameraden. Ach ja, da gäbe es natürlich noch den Hühnerbrüh, das ist der Hilfslehrer, und wenn man mal wieder etwas angestellt hat, sagt er immer: »Seht mir in die Augen.« Und in der Hühnerbrühe sind doch Augen.
Jedem der Freunde des kleinen Nick wird eine Eigenschaft als entscheidendes Charakteristikum zugedacht, das ist der Trick von René Goscinny, und in bewundernswert repetitiver Manier erzählt der Autor seinen Lesern jedesmal aufs Neue mit kleinen Variationen von diesen Eigenheiten seiner Figuren. Goscinny arbeitet da wie Andy Warhol oder Thomas Bernhard, er wiederholt permanent, und dieses Prinzip der Wiederholung entfaltet einen ganz bestimmten Reiz.
Die Geschichten des kleinen Nick machen deshalb auch erst dann richtig Spaß, wenn man kapiert hat, wie sie funktionieren. Dem Kenner des kleinen Nick würde etwas fehlen, wenn von Otto die Rede wäre ohne den Hinweis, dass sich bei diesem alles ums Essen dreht. Er weiß auch, was passieren wird, wenn Nick zu Hause ist und Papa zur Tür hereinkommt mit guter Laune und die Familie zum Essen ins Restaurant einlädt, weil er heute eine Gehaltserhöhung von seinem Chef bekommen hat: Der Besuch im Restaurant wird zwangsläufig eine Katastrophe und unheimlich lustig, und ganz am Schluss der Geschichte erwartet einen zum Nachtisch noch eine typisch gewitzte Goscinny-Pointe. Ohne Pointe entlässt Goscinny seine Leser nie.
Jede dieser Stories ist ungefähr gleich aufgebaut, hat eine ähnliche Länge und wird immer nach demselben Muster aus der Sicht des kleinen Nick erzählt. Doch das ist nicht langweilig, das ist, so würde es Nick sagen: prima. Auch Techno macht erst dann richtig Spaß, wenn man kapiert hat, wie er funktioniert. Man weiß irgendwann: Wenn die Bassdrum aussetzt und man als Hörer sich plötzlich in einer akustischen Twilight Zone befindet, dann kann man sich darauf freuen, dass die Bassdrum gleich noch viel heftiger Wumm! Wumm! machen wird. Wer von Techno keine Ahnung hat, bei dem kann sich diese Vorfreude auf den Bassdrum-Orgasmus gar nicht einstellen.
Die Geschichten des kleinen Nick sind etwas für Kinder, ungefähr so, wie Asterix und Lucky Luke – die Goscinny miterfunden (Asterix) oder bis zu seinem viel zu frühen Tod 1977 entscheidend geprägt hatte (Lucky Luke) – für Kinder sind. Man kann an ihnen aber auch als Erwachsener seinen Spaß haben, und was für einen. Ich bin mit dem kleinen Nick aufgewachsen, habe jedes seiner Abenteuer bestimmt 20 mal gelesen, war absoluter Fan. Und plötzlich liegt nun ein Sammelband vor, der 80 mal »Neues vom kleinen Nick« verspricht. 80 bislang nie in Buchform erschienene Geschichten, die Goscinny und Sempé zwischen 1959 und 1965 für den Sud-Ouest-Dimanche geschrieben und gezeichnet haben, will Goscinnys Tochter bei einem Umzug auf dem Dachboden entdeckt haben. Dass diese nun als Edition vorliegen, ist auch ein Geschenk an uns älter gewordene Nick-Fans.
Prinzipiell ist in den neuen Geschichten alles wie in den alten. Nick erzählt in entsetzlich langen Bandwurmsätzen, sagt immer »prima« und beherrscht den Konjunktiv überhaupt nicht. Skandalös ist nur, dass Adalbert, der Liebling der Lehrerin, dem man wegen seiner Brille keine reinhauen darf, nicht mehr als »dreckiger Ranschmeißer«, sondern nur noch als »Streber« betitelt wird. Früher hat man Adalbert gehasst, diesen dreckigen Ranschmeißer, als Streber wirkt er weit weniger unangenehm.
Was man wahrscheinlich erst jetzt, als erwachsener Leser, zu würdigen weiß, das ist, wie liebevoll Goscinny die Bourgeoisie und all diese französischen Kleinbürger, die in diesen Geschichten auftauchen, samt ihrer Moral, ihren Regeln und Gepflogenheiten aufs Korn nimmt. Wie seine Freunde ticken, das weiß der kleine Nick. Otto – das ist der, der immer isst –, der versteht keinen Spaß, wenn man ihm sein Marmeladebrot wegnimmt. Die Welt der Erwachsenen kapiert der kleine Nick jedoch kein Stück. Gefiltert durch die Sicht Nicks wirken deren Idiosynkrasien noch viel lächerlicher. Oma will immer Küsschen durchs Telefon. Was das der Oma bringen soll, versteht Nick wirklich nicht. Er gibt ihr halt ihre Küsschen und wundert sich, warum sie sich darüber so freut.
Die Erwachsenen wollen immer, dass Nick und seine Freunde keinen Unfug anstellen und brav sind, dann gibt es auch Schokoladenkuchen zum Nachtisch. Selber verhalten sich die Erwachsenen jedoch meist nicht weniger kindisch als die Kleinen, und auch bei ihnen zeigen sich immer wieder dieselben Muster. Gibt es zu Hause Krach, weint Mama, sie sagt, sie hätte damals auf ihre Mutter hören sollen, dann seufzt Papa, entschuldigt sich, und alles ist wieder gut.
Die wirklichen Kinder, das sind eigentlich die Erwachsenen. Papa kann Bleder, den Nachbarn, nicht ertragen und Bleder Papa nicht. Die beiden könnten kein Schachspiel zu Ende bringen, ohne sich irgendwann in den Haaren zu liegen. Und als Nick und Mama Papa bei der Arbeit besuchen, geht es da auch nicht anders zu als bei Nick in der Schule. Als die beiden Besucher die Tür von Papas Büro öffnen, schauen alle ganz ängstlich, verstecken ihre Papierflieger und Kartenspiele, weil sie denken, es sei der Chef. Diese Geschichten sind lustig, verdammt lustig. Und die Zeichnungen dazu von Jean-Jacques Sempé, einfach, pointiert, lakonisch, sind sowieso unschlagbar prima.
Goscinny & Sempé: Neues vom kleinen Nick. Aus dem Französischen von Hans Georg Lenzen. Diogenes, Zürich 2005. 638 S. 24,90 Euro