Abnorme Normen

UN-Ermittlungen gegen Syrien von thomas uwer

Wer bei der Botschaft der Arabischen Republik Syrien ein Visum beantragt, erhält gegen einen frankierten Rückumschlag einen Fragebogen, der neben persönlichen Daten auch eine Antwort auf die folgende Frage verlangt: »Waren Sie früher im besetzten Palästina?« Es erübrigt sich die Gegenfrage, was damit gemeint ist. Wer ein israelisches Visum im Pass hat, war im »besetzten Palästina« und darf nicht nach Syrien einreisen.

Dieser Vorgang ist »normal«, zumindest wenn man darunter den Alltag unter den arabischen Regimes versteht. In Syrien, wie in anderen arabischen Staaten auch, stellt die »Besetzung Palästinas« den Kern der politischen Legitimation der Staatsführung dar, während der Staat Israel sprachlich ausgelöscht wird. Als Gründungsidee hat sich in die Arabische Republik Syrien eingeschrieben, dass alles, was sich dem Herrschaftsanspruch der arabischen Nationalisten widersetzt, unterdrückt oder ausgelöscht werden muss. Wie und unter welchem Namen über solche Feinde in der Öffentlichkeit gesprochen wird, bestimmt der Staat. Auch dies galt lange Zeit als vollkommen »normal«, waren doch die Rahmenbedingungen nahöstlicher Politik selbst abnorm. Alles politische Geschehen in der Region orientierte sich an der Entwicklung des Ost-West-Konflikts. Als unterstützenswert galt unter diesen Bedingungen alles, was jeweils der eigenen Stabilität förderlich und der des gegnerischen Bündnisses abträglich war. Normalität war die gezügelte Aggression.

So oft die arabischen Staaten diesen Zustand auch beklagten, etwa wenn die USA wieder einmal eine UN-Resolution gegen Israel blockierten, so sehr profitierten sie selbst von diesem Zustand. Nur wegen des Blockkonflikts gelang es beispielsweise, politische Unterstützung für die berüchtigte Zionismus-Resolution von 1975 zu gewinnen, in der der Zionismus zu einer Form des Rassismus erklärt wurde. Und nicht zuletzt bewirkte der Blockkonflikt, dass die Frage nach der Vereinbarkeit vieler Regimes mit den Präambeln der Vereinten Nationen erst gar nicht gestellt wurde. Umso größer ist die Überraschung, dass die UN nun gegen den syrischen Staatsterrorismus ermitteln.

Offensichtlich haben jene Vertreter der syrischen Staatsführung, die in den Mord an dem ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri verwickelt sind, nicht einzusehen vermocht, dass andere Regierungen das Attentat schon aufgrund ihres Interesses nicht gutheißen können. Vielleicht waren sie schlicht zu stumpf, die möglichen Konsequenzen abzusehen, vielleicht hofften sie auch, dass der erwartbare Widerstand gegen die USA eine Ermittlung abwenden würde. Erreicht haben sie jedenfalls das Gegenteil. Denn dass die Mitgliedsstaaten der UN sich nicht gegenseitig auslöschen und die Regierungsmitglieder anderer Staaten nicht nach Gutdünken umbringen sollten, steht in den Präambeln der Organisation. Dass einzelne Mitgliedsstaaten dies dennoch taten, war ein Ausdruck jener Abnormität, die im Blockkonflikt zur Normalität wurde. Mit den Ermittlungen gegen die syrische Staatsführung wegen des Mordes an Hariri wird diese Normalität in Frage gestellt.

Damit hat die syrische Staatsführung gleich zwei Prozesse ausgelöst, die ihr keinesfalls gelegen kommen. Im Zuge der Ermittlungen gegen den syrischen Staatsterrorismus könnte einerseits die Legitimität der Staatsführung selbst in Frage gestellt werden. Dies könnte zugleich eine Umorientierung der UN mit sich bringen, die weit eher den Titel »Reform der Vereinten Nationen« verdienen würde als alle vorgebrachten Konzepte, die sich allein darum drehen, die Position der USA zu schwächen.