Nichts als die Wahrheit

Der UN-Bericht über den Mord an Rafik Hariri spaltet die libanesische Gesellschaft, sorgt aber dafür, dass die politische Klasse enger zusammenrückt. Sie hat auch einiges zu verbergen. von hannah wettig

Der Anführer der Hizbollah soll sich entschuldigen. Das fordert die libanesische Organisation Hayyabina in einem Aufruf, auf dem auch ein Foto zu sehen ist, auf dem Hassan Nasrallah dem früheren syrischen Geheimdienstchef im Libanon ein Gewehr überreicht. Das Bild ist anlässlich des Abzugs der syrischen Truppen im April entstanden, als auch der Geheimdienst seine Büros im Libanon offiziell räumte. Das Gewehr, ergattert von einem israelischen Soldaten, war das Abschiedsgeschenk der schiitischen Miliz an den syrischen General Rustom Ghazale.

Ghazale hat im Libanon zweifelsohne der Hizbollah genützt. Syrien ist nicht nur ein enger Verbündeter des Iran, der eigentlichen Schutzmacht der Hizbollah, sondern hat auch ein eigenes Interesse an der Miliz, die als Faustpfand in künftigen Verhandlungen mit Israel dienen soll: Tausche Golanhöhen gegen Ruhe an der libanesischen Grenze.

Doch der Schutz der Hizbollah war nicht Ghazales eigentliche Aufgabe. Sein Geheimdienst war verantwortlich für die Einschüchterung und Verschleppung politisch nicht genehmer Libanesen, und das nicht nur während des 15 Jahre währenden Bürgerkriegs, sondern noch bis zum Abzug der Syrer. Das war allgemein bekannt. Neu ist Ghazales mögliche Mitschuld an dem Attentat auf den früheren Premierminister Rafik Hariri.

Eine rund 1 000 Kilogramm schwere Sprengladung hat am 14. Februar Hariri und 22 weitere Menschen umgebracht. Weil Hariri ein halbes Jahr zuvor die von Syrien gestützte Regierung verlassen und sich danach zum Kritiker der syrischen Einmischung in die Politik des Libanon gewandelt hatte, gaben viele Libanesen Syrien die Schuld an dem Attentat. Eine Million Menschen, ein Viertel aller Libanesen, demonstrierte in den folgenden Tagen für »die Wahrheit« und erreichte unter anderem, dass die Regierung einwilligte, den Fall von einer UN-Kommission untersuchen zu lassen.

Der vom Berliner Staatsanwalt Detlev Mehlis vorgelegte Bericht beschuldigt syrische und libanesische Politiker sowie Geheimdienst-, Polizei-, und Militärkreise, in das Attentat verwickelt zu sein. Einen definitiven Beweis für die Schuld Ghazales und anderer gibt es hingegen noch nicht. Ein zweifelhafter Zeuge belastet Ghazale. Es gibt auffällige Telefonverbindungen zwischen den Hauptverdächtigen rund um den Zeitpunkt der Tat. In dem Mitschnitt eines Telefongesprächs sagt Ghazale, er wolle, dass man Hariris Schicksal der Straße überlasse. Implizit bedeutete das, der Geheimdienst solle Demonstrationen gegen ihn organisieren und hoffen, dass er zurücktritt.

Für diejenigen, die nach dem Mord gegen die von Syrien gestützte Regierung demonstriert haben, ist die Schuld mit dem Mehlis-Bericht dennoch eindeutig erwiesen. Hayyabina fragt in dem Aufruf: »Detlev Mehlis hat uns keinen Zweifel gelassen an Ghazales Schuld. Was wird also Sayyed Hassan Nasrallah tun, um seinen Fehler zu berichtigen? Wird er sich bei den libanesischen Bürgern entschuldigen? Wird er das Geschenk zurückfordern und seinen rechtmäßigen libanesischen Eigentümern zurückgeben?«

Mag auch die Organisation, die sich während der Protestbewegung gegründet hat, der Hälfte der Libanesen aus dem Herzen sprechen, die andere Hälfte hält solche Forderungen für Unsinn. Ein Drittel der Bevölkerung sind Schiiten. Sie fühlen sich von der Hizbollah oder der ebenfalls prosyrischen Amal-Partei vertreten. Am »al-Quds-Tag« am Freitag demonstrierte fast eine halbe Million Menschen in Beirut gegen Sanktionen gegen Syrien und die Forderung der UN nach einer Entwaffnung der Hizbollah.

Dazu wird es wohl ohnehin nicht kommen. In der vorigen Woche erklärte das Kabinett, eine etwaige Entwaffnung der Miliz sei eine interne Angelegenheit. Immerhin stellt die Hizbollah seit den Wahlen im Mai den Außen- und den Energieminister. Der Sozialdemokrat und Drusenführer Walid Jumblatt, der neben Vater, Schwester und Sohn Hariri als wichtigster Oppositionspolitiker galt, hatte sich bereits zuvor gegen eine Entwaffnung ausgesprochen.

Selbst wenn der politische Wille bestünde, müsste die Hizbollah ihrer Entwaffnung zustimmen. Der libanesische Staat ist dazu zu schwach, genauso wie seine Armee. Darum fragte Nasrallah, der Generalsekretär der Organisation, bereits im März: »Wer soll uns denn entwaffnen, nachdem die Syrer abgezogen sind?«

Etwas anderes ist die ebenfalls von der UN geforderte Entwaffnung der palästinensischen Gruppen. Die libanesische Armee hat nunmehr deren Trainingscamps umstellt. Gleichzeitig verhandelt der Premierminister mit den militanten Fraktionen über eine Schließung dieser Camps. Als Vorwand dient der Mord an einem Armeeangestellten, der sich kürzlich ereignete. Allerdings deuteten bereits vor zwei Wochen Äußerungen des palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas darauf hin, dass die libanesische Regierung etwas unternehmen wolle. »Wir sind vorübergehende Gäste im Libanon. Deshalb sollten wir gute Gäste sein und den Gastgebern keine Probleme bereiten«, mahnte er nach einem Treffen mit dem libanesischen Premierministers in Paris.

Doch tatsächlich scheinen die palästinensischen Milizen etwas anderes vorzuhaben. Ein am Mittwoch voriger Woche veröffentlichter Bericht des UN-Gesandten Terje Roed-Larsen stellt fest, dass Waffenlieferungen an die Palästinenser im Libanon zugenommen haben. In den siebziger Jahren hatte die Konfrontation zwischen der Armee und den palästinensischen Gruppen erheblich zum Bürgerkrieg beigetragen.

An einer anderen möglichen Front scheint sich hingegen ein Einvernehmen herzustellen. Kurz nach der Veröffentlichung des Mehlis-Berichts hatten noch viele Politiker laut den Rücktritt des Präsidenten Emile Lahoud gefordert. Er wird zwar nicht verdächtigt, an dem Mord an Hariri beteiligt gewesen zu sein, doch weist der Bericht Verbindungen zwischen ihm und vielen Verdächtigen auf. Zudem steht er wie kein anderer für die Seilschaften mit dem syrischen Regime. Weil die Verlängerung seiner Amtszeit im September des vergangenen Jahres nur durch die Einmischung Syriens zustande kam, forderte die Opposition schon von Anfang an seinen Rücktritt. Doch mittlerweile scheint es, als werde er trotz alledem im Amt bleiben.

Allen voran setzt sich der maronitisch-katholische Patriarch für den Präsidenten ein. Die Maroniten stellen verfassungsgemäß den Präsidenten, waren aber an den Protesten gegen das von Syrien gestützte Regime maßgeblich beteiligt. Der Oppositionsführer und frühere General Michel Aoun, ebenfalls ein Maronit, sieht Lahoud sogar als das kleinere Übel im Vergleich zu einem von der »Hariri-Jumblatt-Connection« gestützten Präsidenten.

Ohnehin wäre es mit einem Rücktritt Lahouds vermutlich nicht getan. Der Mehlis-Bericht spricht dafür, dass Teile der politischen Klasse des Libanon in den Mord an Hariri verwickelt sind. Viele derer, die noch vor kurzem Lahouds Kopf gefordert haben, könnten mehr Dreck am Stecken haben als die Hizbollah, die sich stets öffentlich zu ihrer Allianz mit Syrien bekannt hat. Auch darum mögen einige davon Abstand genommen haben, Lahouds Rücktritt zu fordern, und dürften besorgt dem nächsten Mehlis-Bericht im Dezember entgegensehen.

Von Hannah Wettig ist gerade bei Vorwärts-Buch erschienen: »Aufbruch in Libanon – Auf dem Weg zur Zedern-Revolution. Reportagen aus Beirut«.