»Schnecken im Muslimviertel«

Ein Gespräch mit Orhan Pamuk, dem Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels

»Eines Tages las ich ein Buch, und mein ganzes Leben veränderte sich«, lautet der erste Satz in Ihrem Roman »Das neue Leben«. Gibt es ein Buch, das Ihr ganzes Leben verändert hat?

Nein. Anders als die Helden dieses Romans konnte ich, insbesondere in meiner Jugend, meine Seele nicht allen Bereichen des Lebens öffnen. Ich lebte einzig in der Welt der Bücher, ich war nicht so heroisch und mutig wie die Protagonisten in »Das neue Leben«, die bereit sind, ihr Leben radikal zu verändern. Wenn das Gift eines Buches meine Seele vergiftete, griff ich gleich zum nächsten, das ein Gegengift bot. Wenn ein einziges Buch Ihr ganzes Leben verändert, werden Sie nicht länger für andere Bücher zugänglich sein. Sie werden stets diesem einen Buch, diesem einen Gedanken verhaftet bleiben.

In »Rot ist mein Name« bedroht ein Buch die gesellschaftliche Ordnung, in »Das neue Leben« verfällt ein Mensch einem Buch, in »Schnee« spielt ein verschollener Gedichtband eine wichtige Rolle. Warum geht es in den meisten Ihrer Romane immer auch um die Literatur selbst?

Ich glaube nicht an die autoritäre, allwissende Erzählweise, wie sie charakteristisch ist für den realistischen Roman des 19. Jahrhunderts. Diese legt nahe, dass sie die Welt so darstelle, wie sie wirklich ist. Aber jeder Roman ist der Phantasie seines Autors entsprungen, er ist immer nur ein Versuch, die Welt zu zeigen. Ich denke, dass ein Roman dies offen legen muss. Deswegen gibt es diese Bücher in den Büchern.

In Ihrer Rede bei der Verleihung des Friedenspreises haben Sie gesagt, der Roman eröffne uns die Möglichkeit, »unser Leben als das eines anderen zu erzählen«. Wie viel von Orhan Pamuk steckt in Ihren Figuren, etwa in Ka, dem Protagonisten von »Schnee«?

Ka ähnelt mir sehr, wenngleich ich glücklicher bin als er. Auch er ist in einer laizistischen, bürgerlichen Istanbuler Familie aufgewachsen und hat im westlichen Ausland gelebt. In der ostanatolischen Stadt Kars, wo der Roman spielt, kommt er in die Rolle, »im muslimischen Viertel Schnecken zu verkaufen«, um es mit einer türkischen Redewendung auszudrücken …

… er tut also etwas, was sich dort nicht ziemt, oder sagt Dinge, die dort niemand hören will…

In gewisser Weise erlebe ich das gleiche. Wie Ka bin auch ich gegen meinen Willen in eine politische Situation hineingeraten und versuche, ohne einen größeren Schaden aus dieser Situation wieder herauszugelangen. Aber der Druck, unter den Ka von allen Seiten gerät, lässt ihn zynisch werden. Am Ende glaubt er an gar nichts mehr. Im Gegensatz zu ihm versuche ich, meiner Verantwortung als Schriftsteller gerecht zu werden, indem ich mich beispielsweise für die Meinungsfreiheit einsetze.

Oder Galip, die Hauptfigur aus »Das schwarze Buch«, einem Roman, an dem ich sehr hänge. Galip liebt seine Frau sehr, lebt aber in der ständigen Angst, von ihr verlassen zu werden, weil er glaubt, andere seien ihm überlegen. Ich hatte eine ähnliche Ehe.

In all meinen Büchern finden sich Protagonisten, von denen ich glaube, dass sie mir gleichen. Zugleich gibt es immer Figuren, die das genaue Gegenteil sind. Ich darf Sie aber daran erinnern, dass ich in Frankfurt nicht nur davon gesprochen habe, dass wir im Roman unser eigenes Leben als das eines anderen schildern können, sondern ebenso das Leben anderer Menschen als unseres.

Was sind das für andere Menschen in »Schnee«?

Der Roman erzählt von der Unterdrückung, der Armut, dem Zorn in der türkischen Provinz. Er versucht zu zeigen, wie diese Umstände mit Religion, Kultur und Nationalismus zusammenhängen. Ich wollte zeigen, dass auch ein Mensch, der in einer intoleranten und erbarmungslosen politischen Kultur lebt, der vielleicht radikalen Überzeugungen anhängt, der beispielsweise ein Islamist ist, immer noch ein Mensch ist.

Menschen wie diese betreten niemals die Bühne der Weltgeschichte, um eine berühmte Hegelsche Formulierung aufzugreifen. Viele Menschen außerhalb der westlichen Welt tragen den Schmerz darüber in sich, außen vor zu bleiben. Zwar versuchen die Nationalstaaten, dies vergessen zu machen, indem sie den Menschen mittels nationaler Symbole und nationaler Geschichte das Gefühl geben, sie seien doch bedeutend. Aber letztlich wissen diese Menschen um ihre Bedeutungslosigkeit, sie spüren, dass nicht sie es sind, die die Geschichte machen. Der nationalistische Zorn, der Zorn des politischen Islam, der Zorn der radikalen Linken entspringt meines Erachtens diesem Schmerz.

Der Roman »Schnee« handelt von Menschen, die diesen Schmerz empfinden. Und er behandelt die Frage, ob wir den Schmerz anderer Menschen verstehen und nachempfinden können. Für mich bestand die Herausforderung darin, ein Buch über Menschen zu schreiben, die unter sehr viel schwierigeren und ärmeren Verhältnissen leben müssen als wir. Und die jenseits aller politischen Kämpfe, die sie führen, nach Inseln des Glücks suchen.

Am Ende des Romans kommen Sie auf die Grenzen der Empathie zu sprechen. »Keiner kann uns aus der Ferne verstehen«, sagt eine der Figuren aus Kars.

Natürlich können wir den Schmerz eines anderen nicht vollständig verstehen und nachempfinden, letztlich ist jeder allein. Der Romancier sollte wissen, dass er die Seelenwelt eines anderen nur begrenzt und bedingt nachempfinden kann. Vielleicht gelingt es ihm auch überhaupt nicht, einen anderen zu verstehen, aber bei seinem Versuch schafft er einen schönen Roman, der den Lesern Freude bereitet. Auch das ist eine gute Sache.

»Schnee« wurde im Ausland als türkischer Gegenwartsroman aufgefasst. Stimmen Sie dem zu? Oder historisiert »Schnee« eine abgeschlossene Ära, nämlich die Türkei der neunziger Jahre?

Ich will Ihnen dazu eine Geschichte erzählen. Die türkische Originalfassung erschien Anfang 2002. Zwei Jahre danach folgte die erste Übersetzung, und zwar ins Niederländische. Damals sagte mir ein niederländischer Journalist, den ich seit Jahren kenne und schätze: »Du weißt, dass ich immer die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union befürwortet habe, aber nach der Lektüre deines Buches glaube ich, dass man die Türkei lieber doch draußen lassen sollte.« Das war für mich wie ein K.O.-Schlag. Als ich mich gesammelt hatte, antwortete ich: »Nein, das ist ein historischer Roman, die Türkei hat sich seither sehr verändert.« Aber wirklich überzeugt war ich davon selbst nicht.

Dennoch hat sich seit den frühen neunziger Jahren, in denen der Roman spielt, einiges getan, zahlreiche Gesetze wurden geändert. Der wichtigste Unterschied zu heute besteht darin, dass die Auseinandersetzung zwischen den westlichen, laizistischen Intellektuellen und dem politischen Islam, der damals im Aufstieg begriffen war, nicht mehr in dieser Form existiert. Damals herrschte unter den Intellektuellen die Angst, dass sie wie im Iran von den Islamisten zermalmt werden würden. Diese Angst hat sich verflüchtigt, weil es der regierenden AKP gelungen ist, den politischen Islam zu modernisieren und ihre konservative Wählerschaft von der EU zu überzeugen. Aber die restlichen Probleme, die im Buch verhandelt werden, bestehen nach wie vor. Leider ist der Kurdenkonflikt nicht gelöst, leider gibt es noch immer die PKK-Guerilla, leider mischen sich die Militärs immer noch in die Politik ein, leider existiert noch immer eine intolerante Kultur, was sich auch bei dem Ermittlungsverfahren gegen mich zeigt.

In »Schnee« geht es auch um das Verhältnis der Geschlechter. Ka reist nach Kars, weil er über eine Serie von Selbstmorden unter jungen Frauen recherchieren will. Doch im weiteren Verlauf wird nur die Geschichte der Studentin ausführlich geschildert, die sich erhängt hat, weil man sie dazu zwingen wollte, an der Universität ihr Kopftuch abzulegen. Die anderen Frauen, die sich aus unterschiedlichen Gründen getötet haben, geraten aus dem Blick.

Wären Sie mein Lektor gewesen, hätten Sie mich dazu aufgefordert, die Geschichten der anderen jungen Frauen zu vervollständigen?

Ich hätte wohl nachgefragt.

Nun, die Geschichte mit der Serie von Selbstmorden unter jungen Frauen geht auf eine wahre Begebenheit zurück, die sich vor einigen Jahren im südostanatolischen Ort Batman zutrug, etwa 250 Kilometer von Kars entfernt. Während ich an dem Roman arbeitete, fand ein Beamter des Statistischen Amtes in Ankara heraus, dass in Batman die Selbstmordrate unter Frauen deutlich höher war als im globalen und türkischen Durchschnitt. In türkischen Zeitungen wurde die Entdeckung knapp gemeldet, dann stürzten sich ausländische Journalisten auf das Thema, schließlich beschäftigten sich auch türkische Journalisten damit.

Diese Begebenheit habe ich in meinen Roman aufgenommen. Sie haben Recht, im Roman wird gesagt, dass sich die jungen Selbstmörderinnen aus unterschiedlichen Gründen umgebracht haben. Aber die Selbstbestimmung von Frauen, das Recht der Frau, ein Individuum zu sein und selbst zu bestimmen, wie sie lebt und wie sie sich kleidet, die Versuche von Islamisten wie von aufgeklärten Laizisten, über das Leben von Frauen zu verfügen – all das sind Fragen, die bis zum Ende des Romans erhalten bleiben.

Wenn ich richtig informiert bin, greifen Sie das Thema Frauen und Sexualität in islamischen Gesellschaften auch in dem Roman auf, an dem Sie gerade schreiben.

Ich arbeite derzeit an einem Liebesroman, der in der Istanbuler Oberschicht spielt und dessen Handlung von den siebziger Jahren bis in die Gegenwart reicht. Das Personal ist das Bürgertum in einem Land außerhalb der westlichen Welt, das beansprucht, sich an westlichen Werten zu orientieren, das in seinem Alltag aber weit davon entfernt ist, gemäß diesen Werten zu leben. Und es geht um die Liebe. Weil ich ein türkischer Schriftsteller bin, spielt alles, was ich schreibe, in einem türkisch-muslimischen Kontext und wird im Westen als türkisch-muslimische Problematik wahrgenommen.

Darüber haben Sie sich einmal beschwert.

Ich habe mal gesagt, dass es einem Proust zugestanden wird, über »die Liebe« zu schreiben, während es bei mir immer nur heißt, ich schriebe über die »türkische Liebe«.

Ist das noch so?

Vielleicht etwas weniger als vor einigen Jahren. Aber es ist nicht leicht, ein türkischer Romancier zu sein. Es gibt in der Türkei, es gibt in der ganzen islamischen Welt nicht viele Romanciers. Ob Sie es wollen oder nicht, geraten Sie deshalb in die Situation, die Türkei zu repräsentieren. Alles, was Sie sagen und schreiben, wird als repräsentativ für die muslimische Welt erachtet. Wenn ich über die Liebe oder über Gefühle wie Eifersucht, Verrat und Leidenschaft schreibe, neigen viele Kritiker dazu, meine Darstellung als »Sicht eines Türken« oder als »Sicht eines Muslims« aufzufassen. Aber vielleicht ist das gar nicht so, vielleicht habe ich überhaupt keine »türkische Sicht«. Diese ethnische Kategorisierung passiert oft nicht aus Böswilligkeit, sondern weil man eben nicht viele Stimmen aus diesem Teil der Welt hört.

In Frankfurt haben Sie gesagt, dass Sie angesichts der Art und Weise, wie in einigen westlichen Medien über das Ost-West-Thema gesprochen wird, am liebsten überhaupt nichts dazu sagen möchten.

Neulich war ich zu einer Fernsehtalkshow eingeladen, wo man mich aufforderte: »Überzeugen Sie uns davon, dass die Muslime keine Terroristen sind!« Was soll man auf so etwas antworten? In den westlichen Medien – nicht in allen, es gibt auch sehr kenntnisreiche Journalisten –, aber gerade in den Massenmedien wurde nach dem 11. September ein furchtbar schlechtes Bild des Islam gemalt. Es gibt einen erniedrigenden Diskurs, der die Kultur und das Leben in diesem Teil der Welt als Problem ansieht und von uns Intellektuellen erwartet, dieses Problem zu lösen.

Andererseits töten sie im Irak 100 000 Menschen, weil dort angeblich Massenvernichtungswaffen existieren. Dann sagen sie einfach: »Ach, es gab doch keine Massenvernichtungswaffen.« Und dann sitzen sie in Talkshows und erörtern, ob die Muslime nun Terroristen sind oder nicht. Nicht einmal eine Entschuldigung ist zu hören, dass man mir nichts, dir nichts 100 000 Menschen umgebracht hat.

Worin besteht angesichts dessen die Verantwortung des Schriftstellers, von der Sie eben gesprochen haben? Was kann Literatur bewirken?

Als Schriftsteller kann ich diese Dinge ansprechen, kann ich mich in politische Fragen einmischen, was ich in den letzten Jahren immer wieder getan habe. Dieses Engagement trenne ich aber strikt von meinen Büchern. Ich glaube auch nicht, dass Literatur in politische Geschehnisse eingreifen kann, jedenfalls bin ich kein Romancier, der seine Bücher in den Dienst einer politischen Sache stellt. »Schnee« ist zwar ein politischer Roman, aber er macht keine Propaganda für oder gegen etwas. Die Aufgabe des Romans besteht auch nicht darin nachzuweisen, dass die politische Idee, der jemand anhängt, falsch ist. Er kann aber, wie gesagt, zeigen, dass auch ein Mensch, der eine Überzeugung vertritt, die ich ganz und gar ablehne, ein Mensch ist, dessen Empfindungen sich gar nicht so sehr von unseren unterscheiden. Der Roman kann den Zorn eines solchen Menschen nachempfinden und zeigen, dass es vielleicht Gründe für seinen Zorn gibt.

Bei der Preisverleihung waren keine Vertreter des türkischen Staates zugegen. Hat Sie das gekränkt? Oder hätten Sie deren Anwesenheit als unpassend empfunden?

Um meine Freude über eine solch bedeutende Auszeichnung zu vervollkommnen, bedarf ich keiner Anerkennung durch den Staat, ich bin auch so glücklich. Aber in Frankfurt gab es einen politischen Sachverhalt. Ich wollte dort zugunsten einer Aufnahme der Türkei in die Europäische Union sprechen. Eingedenk dessen wäre es für mich wie für die Türkei vorteilhaft gewesen, wenn ein Vertreter des Staates anwesend gewesen wäre. Zumal der Ministerpräsident und der Außenminister angedeutet haben, dass sie für das Ermittlungsverfahren gegen mich weder verantwortlich seien noch es gutheißen. Aber ich will das Ganze nicht überbewerten.

In der Türkei werden Sie wegen Ihrer Äußerungen heftig kritisiert. Haben Sie denn das Gefühl, von türkischen Intellektuellen und Künstlern Solidarität zu erfahren?

Als Anfang Februar ein wochenlanges Bombardement auf mich niederprasselte, fand sich niemand, der mich verteidigt hätte. Zwar dauern die Angriffe auf mich fort, aber inzwischen erscheinen zahlreiche Zeitungsartikel, die mich unterstützen. Heute fühle ich mich nicht mehr einsam, sondern in einer Reihe mit vielen anderen Menschen. Ich will nicht den alten Begriff »Genossen« verwenden, aber doch mit Menschen, mit denen ich gemeinsam für Meinungsfreiheit und Demokratie kämpfe.

Könnte es sein, dass sich viele Intellektuelle anfangs reserviert verhalten haben, weil sie sich über eine andere Aussage in jenem Interview geärgert haben? Nämlich über Ihren Zusatz: »Fast niemand traut sich, das zu erwähnen.«

Das weiß ich nicht, dazu kann ich nichts sagen.

Ihr letztes Buch, der autobiographische Essayband »Istanbul«, endet im Jahr 1973. Wie hat sich die Stadt seither verändert?

Dort beschreibe eine unglückliche, in sich gekehrte Stadt. Das heutige Istanbul ist offener und farbiger. Heute kann jeder viel freier seine Meinung äußern. Das sage ich als jemand, der wegen einer Meinungsäußerung belangt werden soll.

interview: deniz yücel

Orhan Pamuks letztes Buch »Istanbul« wird frühestens im Herbst 2006 auf Deutsch erscheinen. Erstmals auf Deutsch erschien ein Vorabdruck daraus als Beilage zur Türkei-Sonderausgabe der Jungle World, die noch beim Verlag bestellt werden kann.