Status: Ungeklärt

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat beschlossen, über den endgültigen Status des Kosovo zu verhandeln. Eine Reise durch das Protektorat. von markus bickel (text und fotos)

Natürlich könnt ihr in Euro zahlen, kein Problem«, sagt der Kellner in dem kleinen düsteren Lokal an der Hauptstraße von Gracanica. An den Wänden hängen Pinup-Girls und Poster der serbischen Turbofolklegende Ceca, für acht Dinar gibt es neben serbischem auch mazedonisches Bier zu kaufen. Die kosovo-albanische Monopolmarke »Birra e Pejes« hingegen fehlt auf der Getränkekarte, ebenso wie Preisangaben in Euro, dem offiziellen Zahlungsmittel im Kosovo. Schräg gegenüber der schlicht eingerichteten Kneipe komplettieren Wahlplakate mit dem Konterfei des serbischen Faschisten Tomislav Nikolic den Eindruck, die nur 20 Autominuten von der Provinzhauptstadt Pristina entfernte serbische Enklave liege in einem anderen Land. Mittendrin und nirgendwo.

Auch die kyrillischen Buchstaben über den Türen von Zeitschriften- und Lebensmittelläden entlang der von Schlaglöchern übersäten Hauptstraße sieht man sonst nur in Serbien oder Montenegro, nicht in den fast ausschließlich albanisch besiedelten Orten des Uno-Protektorats, wo diese Schriftzeichen untrennbar mit der Zeit der verhassten serbischen Herrschaft assoziiert werden. Vertraut wirken nur die dicken weißen Lettern an den Seiten des Militärwagens, der vor dem ebenfalls an der Durchgangsstraße gelegenen Kloster der Kleinstadt geparkt ist: KFOR. Gelangweilt sitzen zwei schwedische Soldaten der von der Nato geführten Kosovo-Schutztruppe in ihrem Jeep vor dem großen Holztor, hinter dem sich die prächtige Kirche verbirgt. Weil kosovo-albanische Extremisten vor gut anderthalb Jahren versuchten, die im Jahr 1321 errichtete Anlage zu stürmen, wird das Gelände nunmehr Tag und Nacht bewacht. Orthodoxe Gesänge schallen aus dem Kuppelbau, hastig läuft eine schwarz gekleidete Frau Richtung Eingang.

»Die religiösen Stätten und Institutionen der serbisch-orthodoxen Kirche stellen ein kritisches Element im spirituellen Gewebe der kosovo-serbischen Gesellschaft dar«, heißt es in dem Bericht, den Kofi Annans Sondergesandter Kai Eide im Oktober dem Uno-Sicherheitsrat vorlegte. »Doch auch wenn die Bereitschaft von Kfor unersetzbar ist, die religiösen Stätten zu schützen, kann eine dauerhafte Lösung nicht auf militärischen Kräften beruhen«, schreibt der norwegische Spitzendiplomat weiter und stellt fest: »Das Kosovo ist ein kleines Gebiet, wo Zwischenfälle an einem Ort rasend schnell in anderen Gegenden bekannt werden. In dieser Situation leiden die Minderheiten – allen voran die Kosovo-Serben – unter mehr als nur einer eingebildeten Unsicherheit. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine Mischung aus Realität und Wahrnehmung.«

Um die Situation zu ändern, fordert Eide eine rücksichtslose Strafverfolgung: »Wenn die Täter Bewegungsfreiheit genießen, ist es schwer, die Opfer davon zu überzeugen, dass sie dieselbe Freiheit genießen.« Aber bis zur Umsetzung der Devise dürfte es noch ein weiter Weg sein. Erst Ende August fielen zwei Kosovo-Serben im Süden des zwei Millionen Einwohner zählenden Protektorats Schüssen zum Opfer. Die Mörder entkamen unerkannt. Auch die Verantwortlichen für den Mord an einem kosovo-serbischen Jungen in der serbischen Enklave Gorazdevac im Westkosovo im August 2003 sind bis heute auf freiem Fuß. Straffrei blieben außerdem jene Männer, die im Juni 2004 aus ihrem Wagen heraus einen Jugendlichen auf der Hauptstraße von Gracanica erschossen.

Um zu fliehen, brauchten die Täter nur aufs Gaspedal zu treten, denn schon kurz hinter dem westlichen Ortsausgang der 4 000-Einwohnergemeinde beginnt kosovo-albanisches Gebiet. Fahnen mit doppelköpfigem schwarzem Adler auf rotem Grund wehen von Tankstellen und Getränkeläden. In der bis zu den März-Pogromen 2004 von vielen Serben bewohnten Nachbargemeinde Caglovica werben hastig gemalte Schilder an den Fassaden der Häuser für den Verkauf der Immobilien. Bleiben will hier kaum jemand – allen Beteuerungen des nationalistischen serbischen Premierministers Vojislav Kostunica zum Trotz, die Rechte der Kosovo-Serben zu verteidigen. Von den 4 000 Flüchtlingen, die im Frühling vorigen Jahres ihre Wohnungen und Häuser verließen, sind fast nur die Alten zurückgekehrt.

Serbiens Präsident Boris Tadic scheint das im Unterschied zu Kostunica begriffen zu haben. Nach der Entscheidung des Sicherheitsrats von Ende Oktober, Verhandlungen über den endgültigen Status des Kosovo zu beginnen, räumte er öffentlich ein, dass eine »aufgezwungene Lösung« angesichts der »schwierigen Hinterlassenschaft, die wir geerbt haben«, nicht ausgeschlossen werden könne.

»Schwierige Hinterlassenschaft«? Im Klartext heißt das: Sechs Jahre nach Ende des Kosovo-Kriegs, 16 Jahre nach Aufhebung des von Josip Broz Tito eingeräumten Autonomiestatuts durch Serbiens damaligen Präsidenten Slobodan Milosevic im Jahr 1989 und fast ein Vierteljahrhundert nach der gewaltsamen Niederschlagung der Studentenproteste 1981 in Pristina hat Belgrad seinen Anspruch auf die Provinz verloren. Die Mitte nächsten Jahres erwartete Unabhängigkeit Montenegros dürfte den Sezessionsprozess beschleunigen, schließlich gehört das Kosovo gemäß der Sicherheitsratsresolution 1244 von Juni 1999 zu Jugoslawien (heute: Serbien-Montenegro), nicht zu Serbien.

Vor allem junge Kosovo-Serben, die in Enklaven mit hoher Arbeitslosenrate wie Gracanica, Lipljan oder dem Nordteil von Kosovska Mitrovica leben, wollen nicht mehr bis zur Lösung der Statusfrage warten und kehren dem Kosovo schon heute den Rücken. Weil nur die wenigsten Albanisch sprechen, lohnt sich die Fahrt in die Provinzhauptstadt Pristina mit ihrer vitalen Disko- und Kneipenszene ohnehin kaum: Schon beim Bestellen würden sie wegen mangelnder Sprachkenntnisse erkannt – und wahrscheinlich Opfer jener »interethnischen Gewalt niedriger Intensität« werden, wie Eide die zahlreichen Fälle von Diskriminierung nennt, die nicht der Polizei gemeldet werden.

Wenig einladend auch die Symbole, die Besucher gleich am südlichen Ortseingang Pristinas erwartet. Auf dem Dach eines neu gebauten Hotels steht eine Miniaturausgabe der Freiheitsstatue von New York – Ausdruck der Verbundenheit der Kosovo-Albaner mit den USA. Ein paar Hundert Meter weiter stößt die von Skopje kommende Straße auf den »Bulevardi Bil Klinton«, wo der ehemalige US-Präsident von einem riesigen Plakat auf die Passanten herunterlächelt. Der Abzug der serbischen Herrscher, da sind sich die kosovo-albanischen Bewohner einig, wäre ohne das von Clinton erzwungene Nato-Bombardement Serbiens im Frühjahr 1999 nie geglückt. Dass das Ende der serbischen Repression den Aufstieg der kosovo-albanischen Nationalisten mit sich brachte, zeigt beispielhaft die Inschrift auf der unverputzten Betonkuppel der hässlichen, in den achtziger Jahren begonnenen, nie fertig gestellten serbisch-orthodoxen Kirche: »PIDH«, Fotze.

Im Schatten der Kirche, die übereifrige Geschäftsleute schon in ein Shopping-Center umwandeln wollten, steht die Universität von Pristina. Dutzende Studierende strömen kurz nach Semesterbeginn durch den engen Haupteingang, eine Gruppe junger Männer drängt sich vor einen Aushang mit Klausurergebnissen. 1981, ein Jahr nach dem Tod Titos, entstand in dem grauen Zweckbau das Zentrum der kosovo-albanischen Protestbewegung gegen die serbischen Verwalter. Intellektuelle wie der Soziologe Shkelzen Maliqi sprachen sich für den Erhalt der von Titos nationalistischen Nachfolgern in Belgrad infrage gestellten Autonomie der südserbischen Provinz aus. Auch Albin Kurti, den die serbischen Behörden bei ihrem Abzug aus dem Kosovo im Juni 1999 mitnahmen und in Belgrad ins Gefängnis steckten, war damals dabei. Heute schmückt die schlichte Parole der von ihm nach seiner Freilassung gegründeten, studentisch dominierten Bewegung für Selbstbestimmung den ganzen Campus: »Keine Verhandlungen – Selbstbestimmung«.

Immer wieder taucht der Spruch auf dem Weg durch die Innenstadt auf: gegenüber vom Hotel Grand, dem Treffpunkt der in den neunziger Jahren in Bonn ansässigen Exilregierung des heute machtlosen Arztes Bujar Bukoshi; an den Fassaden der tristen Mehrzweckhalle Qendra e Rinise, hier gepaart mit einem überlebensgroßen Plakat des martialisch bewaffneten Mitgründers der Kosovo-Befreiungsarmee UCK, Adem Jashari; und vor dem Denkmal für Mutter-Teresa am Eingang des Hauptquartiers der aus der UCK hervorgegangenen Demokratischen Partei des Kosovo (PDK).

Im Büro von Hasim Thaci, dem Vorsitzenden der PDK, steht eine albanische Fahne, auch kleine Banner der Nato und der USA sind auf einer Kommode an der Rückwand des spärlich eingerichteten Raums zu sehen. Was fehlt, ist das EU-Wappen. Für den jungen Oppositionsführer und einstigen Chef der UCK, der dem Statusverhandlungsteam angehören wird, ist das kein Widerspruch angesichts der kosovo-albanischen Ambitionen auf Mitgliedschaft im europäischen Club: »Die Teilnahme der Europäischen Union an den Statusgesprächen wird den Prozess der völkerrechtlichen Anerkennung des Kosovo als unabhängiger Staat beschleunigen«, sagt Thaci. Am Ziel der Gespräche, die voraussichtlich der von Uno-Generalsekretär Annan vorige Woche vorgeschlagene finnische Expremier Martti Ahtisaari leiten wird, lässt der Mittdreißiger keine Zweifel aufkommen: »Die einzige Lösung ist, dass das Kosovo ein unabhängiger und souveräner Staat wird.« Die Voraussetzungen dafür seien schon seit dem Abzug jugoslawischer Truppen und serbischer Polizeieinheiten 1999 im Sommer gegeben.

Die antiserbischen Ausschreitungen von März 2004 beweisen das Gegenteil. Und auch der Eide-Bericht kommt zu wenig schmeichelhaften Urteilen über die Arbeit der politische Klasse in Pristina: »Was den Aufbau einer multiethnischen Gesellschaft betrifft, sieht die Situation bitter aus«, schreibt Annans Sondergesandter. »Um dieses Bild zu korrigieren, müssen Kosovos Führer und die internationale Gemeinschaft rasche Maßnahmen ergreifen.« Kritik gibt es allerdings ebenso für die serbische Seite: »Belgrad sollte von aufrührerischen Kommentaren Abstand nehmen, da diese zu einem unsicheren Umfeld beitragen könnten.« Beendet werden müsse außerdem der Boykott der in den vergangenen Jahren von der Übergangsadministration der Vereinten Nationen (Unmik) etablierten staatlichen Institutionen. Eides Fazit: »Einen guten Zeitpunkt, den zukünftigen Status des Kosovo anzugehen, wird es nicht geben. Eine umfassende Einschätzung führt jedoch zu dem Ergebnis, dass die Zeit gekommen ist, diesen Prozess zu beginnen.«

Ob er seine Anhänger zu Protesten aufrufen werde, wenn die Verhandlungen ins Stocken geraten sollten? Theatralisch hebt Thaci die Arme in die Höhe: Nein, da bräuchten sich die internationalen Vermittler keine Sorgen machen, schließlich sei der Ausgang der Gespräche ohnehin klar. Und an den Berichten lokaler Medien, die für den Spätherbst Massendemonstrationen prognostizieren, sei ebenfalls nichts dran. »Ich habe darüber keine Kenntnisse«, sagt der Mann, den einige in Pristina für den eigentlichen Drahtzieher der antiserbischen Pogrome im vorigen Frühjahr halten. Weshalb er sich just zum Ausbruch der Krawalle in Washington aufhielt, ist bis heute nicht geklärt.

Ein Grund könnte sein, dass Thaci sich damals die Zusicherung holte, das Kosovo-Schutzkorps (TMK) mit mehr Befugnissen auszustatten. Unmik und Kfor räumten dem nach Ende des Kosovo-Krieges gegründeten Auffangbecken für etwa 5 000 entwaffnete UCK-Kämpfer bislang lediglich ein, als zivile Katastrophenschutzorganisation ähnlich dem deutschen Technischen Hilfswerk tätig zu sein. Doch das ist Thacis Kampfgefährten aus Kriegszeiten, dem TMK-Oberkommandierenden Agim Ceku, zu wenig. Wie die Mehrheit seiner Landsleute sieht er die Truppe als Keimzelle der Armee eines unabhängigen Kosovo. Eine Ansicht, die in Washington auf weit mehr Zustimmung stößt als in den europäischen Hauptstädten. Schon heute ähneln die TMK-Uniformen auffällig denen der US-Nationalgarde.

Mangelnde soldatische Strenge kann man auch den beiden TMK-Männern nicht vorwerfen, die hastig aus ihrem Wachhäuschen gesprungen kommen, als sich die Besucher über einen langen Holzsteg dem Friedhof nähern. An einem Hang, 50 Meter von der wohl am besten beleuchteten Landstraße der Provinz entfernt, sichern sie mit todernstem Blick die Gräber des Jashari-Clans – eine Aufgabe von nationaler Bedeutung. Denn hier in Prekaz, einer kleinen Siedlung im nur eine Autostunde von Pristina entfernten Drenica-Tal, hat der Mythos von der Unbesiegbarkeit der UCK seinen Ursprung: Nach mehrtägiger Belagerung durch serbische Spezialeinheiten Anfang März 1998 starben UCK-Gründer Adem Jashari, sein Bruder Hamez und Vater Shaban sowie 20 weitere Familienmitglieder; insgesamt kamen binnen Stunden 53 Dorfbewohner ums Leben. Erst nach dem Massaker schlossen sich Tausende junger Männer der bis dahin militärisch unbedeutenden Separatisten-Guerilla an.

Baugerüste stützen das zerstörte, immer noch von Granateinschlägen übersäte Haus der Jasharis, ein großes Bild des Nationalhelden samt UCK-Emblem ist an der Fassade des Freiluftmuseums montiert. Wie überall im Kosovo, wo albanische Opfer zu beklagen waren, erinnert ein Gedenkstein mit den Namen der Getöteten an den Identität stiftenden Krieg gegen die serbischen Truppen. Und in einer kleinen Baracke am Rande der von einem breiten Gehweg gesäumten Straße bietet ein freundlicher Verkäufer Broschüren und Bildbände an, die den tapferen Kampf der Dorfbewohner dokumentieren.

Auch in der Fußgängerzone der Nachbargemeinde Skenderai steht ein Denkmal zu Ehren Jasharis, auf dem Ortseingangsschild ist der serbische Name der Kleinstadt, Srbica, übersprüht worden. Bereits im Sommer 1998 zählte die Gegend zu den ersten von der UCK kontrollierten Territorien, und mehr als sieben Jahre später entwickelt sich das Gebiet erneut zur No-Go-Area. Doch nicht nur serbische Polizisten müssen hier und weiter südwestlich, Richtung Djakovica und Prizren um ihr Leben fürchten, sondern auch Angehörige der Unmik-Polizei. Deren Chef Kai Vittrup bestätigte Ende Oktober unumwunden die Präsenz bewaffneter, schwarz uniformierter Männer, die sich als Armee für die Unabhängigkeit des Kosovo bezeichneten und illegale Checkpoints errichten.

Ein gutes Omen für die bald beginnenden Statusgespräche ist das nicht. Denn schon einmal, vor rund drei Jahren, war eine dubiose UCK-Nachfolgeorganisation aufgetaucht, die sich Albanische Unabhängigkeitsarmee nannte. Später kam heraus, dass einige der Feierabendterroristen zugleich dem Kosovo-Schutzkorps TMK angehörten.