Das Recht auf Mama Coca

Die peruanische Regierung verschärft ihren Kampf gegen den Konsum und Anbau von Coca. Doch die widerstandsfähige Pflanze sichert den Lebensunterhalt vieler Familien in den kargen Bergregionen. von knut henkel, lima

Hoja de Coca, Hoja de Coca«, rufen die beiden Frauen den Passanten zu und hin und wieder bleibt einer stehen und kauft ihnen ein Beutelchen mit den grünen Blättern ab. Die Cocablätter bieten sie gegenüber der zentralen Markthalle in der peruanischen Andenstadt Cuscos an. Einen Steinwurf entfernt liegt die Bahnstation, von wo aus der Touristenzug zur alten Inkafestung Machu Picchu abfährt. Auch an Touristen wird verkauft, »nur bleiben die selten stehen«, sagt Imelda Vasquez lachend. »Der Verkauf der Blätter ist vollkommen normal, denn alle Leute aus der Region kauen die Blätter. Irgendwo müssen sie die doch auch kaufen«, sagt sie und tippt lachend die Frau neben ihr an.

An die Bauern, die den größten Markt der Region regelmäßig besuchen, um hier ihre Produkte anzubieten, verkaufen die beiden Frauen die Blätter in erster Linie. Etwa einen Dollar kostet bei ihnen das Pfund für Ausländer, die Bauern aus dem Andenhochland erhalten etwa das Doppelte für das gleiche Geld. Rund um Cusco gedeiht die Pflanze allerdings gar nicht. »Viel zu hoch ist es hier«, erklärt Roberto Mamaini Miranda von der Bauerngewerkschaft der Provinz Cusco.

Der 53jährige baut selbst Coca an und ist Vorsitzender der gewerkschaftlichen »Kommission zur Erforschung und Verteidigung von Coca«. »Ein nationales Erbe ist die Pflanze, und mit der Kriminalisierung kommt man nicht weiter«, so der Bauernvertreter aus dem Dorf Huantile. Dort, rund 130 Kilometer von Cusco entfernt, hat er seine Felder. Auf 1 800 Meter Höhe, rund 1 500 Meter tiefer als Cusco, liegen die Felder. Dort gedeiht der robuste Cocastrauch sehr gut. »960 Kilogramm Cocablätter habe ich vergangenes Jahr geerntet – in etwa so viel wird es auch dieses Jahr sein«, sagt Mamaini stolz. Coca gehört für den Indio zum Alltag, und während der Arbeit auf dem Feld kaut er die Blätter mit etwas Kalk. »Das gibt Energie und dämpft den Hunger«, sagt der auffallend große Mann lachend. Ein 5 000 Jahre altes Hausrezept, wie archäologische Studien in Caral, der ältesten Stadt des Kontinents, belegen. Auch dort wurden Reste der Pflanze gefunden, und die Forscher um Dr. Ruth Shady Solís sind sich sicher, dass Coca bereits damals bei zeremoniellen Anlässen verwendet wurde.

Daran hat sich zumindest in den indigenen Gemeinden Perus kaum etwas geändert. Allein um die alte Inkastadt Cusco soll es rund 400 Gemeinden geben, deren Bewohner Coca konsumieren. Erst Ende August gab es im Tal von Lares, einem der traditionellen Anbaugebiete der Region, ein Treffen von weit über 3 000 Cocaleros. »Die zentrale Botschaft des Treffens«, erklärt José Mendoza von der Agrargewerkschaft Tupac Amaru, »war der Appell an die Nationalregierung in Lima, unser heiliges Recht, Coca anzubauen, zu respektieren«, erklärt der 62-jährige Gewerkschaftsfunktionär. »Die Bauern bauen doch nicht an, damit aus den Blättern Kokain hergestellt wird, sie bauen für den Bedarf der Gemeinden an und um ihren Lebensunterhalt zu verdienen«, sagt Mendoza im Brustton der Überzeugung.

Anders als sein Kollege von der konkurrierenden Bauernvertretung baut er nicht selbst an, aber gegen die Kriminalisierung der Bauern hat der bärtige Gewerkschafter etwas. Mehrere Monate organisierten die Bauern Protestzüge gegen die Kriminalisierung des Anbaus von »Mama Coca«, wie die Pflanze in den Anden auch genannt wird. Und schließlich lenkte die Regionalregierung von Cusco ein. Am 21. Juni erklärte sie den Anbau von Coca zu medizinischen, zeremoniellen und kulturellen Zwecken für legal. Das Gesetz erklärt die Cocapflanze zum Teil der regionalen Kultur und drei Täler des Regierungsbezirks zu legalen Anbauzonen.

Roberto Miranda und José Mendoza sind stolz darauf, dass sie gemeinsam das Gesetz durchgebracht haben. »Aus Angst, dass der Tourismus Schaden nehmen könne, haben wir schließlich für das Gesetz gestimmt«, erklärte Alejandro Uscumayta, der Vizepräsident der Regionalregierung, damals. Allerdings zeugt die Entscheidung der Regionalregierung auch von deren Eigenständigkeit gegenüber der Zentralregierung, und das ist eine exzellente Eigenwerbung angesichts der anstehenden Regionalwahlen.

Rund zehn bis 15 Prozent der Cocablätter werden legal gehandelt, für die Herstellung von Tee, medizinischen Produkten und den Weiterverkauf an die Konsumenten. Die staatliche Coca-Ankaufgesellschaft Enaco kauft jährlich nur etwa 3 000 Tonnen Cocablätter, obwohl allein der Bedarf der indigenen Gemeinden auf mindestens 9 000 Tonnen pro Jahr geschätzt wird. Vier Millionen Konsumenten, vornehmlich Indios, soll es in Peru geben, die regelmäßig Cocablätter mit etwas Kalk zerkauen. »Die Konsumenten sind also gezwungen, ihren Bedarf illegal zu decken, weil das Enaco-Angebot nicht ausreicht«, sagt Miranda. Er hat Glück und kann bisher seine Produktion bei der Enaco verkaufen.

Doch die zahlt schlecht. Umgerechnet etwa 17 US-Dollar erhält er für 11 Kilo Cocablätter – ein Preis, der weit unter dem liegt, den Coca Cola für ein Pfund der grünen Ware bezahlt. Von dem, was die Bauern von Enaco für Coca erhalten, können sie aber immer noch besser leben als vom Verkauf von Mais oder Kartoffeln, den klassischen Anbauprodukten der Region. Die Situation der Bauern ist schwierig. Der Konsum werde von der Regierung in Lima kriminalisiert, es werde Druck auf die Bauern ausgeübt, weniger anzubauen, und gleichzeitig würden ihnen keine Anbaualternativen geliefert, kritisieren die beiden Gewerkschafter.

Letztlich wird in Kauf genommen, dass die Bauern abwandern und ihre Cocablätter illegal an die Drogenhändler verkaufen. »Die bieten feste Preis- und Abnahmegarantien – überaus attraktiv für die Bauern«, erklärt Milton Rojas, Mitarbeiter der Drogenpräventionseinrichtung Cedro in Lima. Die Organisation beobachtet den Markt sehr genau und hat in den vergangenen Jahren eine kontinuierliche Ausdehnung der Anbauflächen festgestellt, nachdem Ende der neunziger Jahre Anbau und Erträge mit großem Aufwand reduziert worden waren. Derzeit wird der nationalen Drogenbekämpfungsbehörde Devida zufolge auf rund 60 000 Hektar Coca angebaut. Nach Kolumbien und noch vor Bolivien ist Peru der zweitwichtigste Kokainproduzent der Welt. Rund 300 000 Familien leben vom Anbau der Pflanze, schätzen Experten.

Die kleinen Anbauflächen in den Bergregionen, oftmals Terrassen, die vor Jahrhunderten angelegt wurden, um auch den letzten Quadratzentimeter Ackerfläche zu nutzen, sind nicht einfach zu bewirtschaften. Traktoren haben auf den Feldern keinen Platz, und für Motorfräsen, modernes Saatgut und andere Agrarinputs fehlt den Bauern das Geld. Niedrige Erträge sind die Folge, so dass die peruanischen Kleinbauern Schwierigkeiten haben, mit der billigen Importware zu konkurrieren.

»Selbst Kartoffeln werden teilweise importiert – für das Land, aus dem die Knolle stammt und in dem sie weiterentwickelt wurde, ein Desaster«, schimpft Miranda. Doch die Konkurrenz gibt die Preise vor, und für Nostalgie ist kein Platz auf dem umkämpften Agrarmarkt. Und für die Bauern aus Cusco und anderen Hochlandregionen Perus wird es in den nächsten Jahren noch schwieriger werden. Der weitgehend ausgehandelte Freihandelsvertrag zwischen Peru, Kolumbien, Ecuador und den USA wird wichtige Schutzzölle für Agrarprodukte aufheben und den hoch subventionierten US-amerikanischen Landwirten neue Absatzmärkte für Getreide, Mais und andere Produkte bescheren, warnen peruanische Agrarverbände. Sie prognostizieren Landflucht und auch die Erweiterung des Coca-Anbaus.

Das halten auch die Mitarbeiter von Cedro nicht für abwegig. Sie beobachten in den Großstädten des Landes, vor allem in Lima, aber auch in Trujillo, Chiclayo oder Arequipa eine regelrechte Drogenschwemme. »In Lima kostet das Gramm Kokainpaste umgerechnet zwei bis drei US-Dollar, früher waren es hingegen 20 bis 30 US-Dollar«, erklärt Milton Rojas. »Generell steigt die Zahl der Konsumenten«, sagt der 38jährige Psychologe Miguel Moscoso. Seit 13 Jahren arbeitet er für Cedro. Derzeit koordiniert er die Präventionsarbeit mit den Gemeinden. »Schwierig ist es, die Leute aus der Nachbarschaft davon zu überzeugen, ihren Teil beizusteuern, damit nicht vor der eigenen Haustür konsumiert wird und Kinder und Jugendliche nicht verleitet werden. Partizipation ist in Peru noch immer ein Fremdwort«, sagt Moscoso.

Für ihn sind die Gründe für die steigende Zahl von Konsumenten klar. »Es gibt kaum Perspektiven für die Jugendlichen in Peru. Trotz beachtlicher Wachstumsquoten entstehen in Peru keine Arbeitsplätze. Frust und Depression führen oft zum Griff nach der Droge.« Immer wieder hat er mit Jugendlichen zu tun, die mit Marihuana, Kokain und auch Heroin dealen. Früher gab es Heroin nicht auf dem peruanischen Markt, weil es nicht angebaut wurde. Vor einigen Monaten wurden die ersten Mohnfelder in der Nähe der kolumbianischen Grenze entdeckt.

Auch die Verarbeitung der Cocapflanze verlagert sich immer mehr nach Peru. Früher liefen die Weiterverarbeitung zu Kokain und der Vertrieb über Kolumbien. »Heute gibt es immer mehr Labore in Peru und immer neue Vertriebsrouten«, erklärt Milton Rojas, der bei Cedro die Beratungsstelle in Lima leitet. Zwischen 300 und 400 Anrufe gehen pro Monat ein, 250 Kontakte werden zusätzlich über das Internet geknüpft. Das Einstiegsalter für so genannte weiche Drogen wie Alkohol und Tabak liegt bei neun bis zehn Jahren, für harte bei zwölf Jahren. »Mehr Prävention an den Schulen wäre nötig, doch es passiert wenig«, klagt Rojas.

Die Zahl der Drogenabhängigen in Peru wird auf etwa 400 000 Personen geschätzt, doch nur die wenigsten gelten als Kokainkonsumenten. Alkohol stelle immer noch ein wesentlich größeres Problem dar, erklärt Rojas. Doch das könnte sich schnell ändern, befürchtet er angesichts der derzeitigen Dumpingpreise für die heiße Ware.