Nirgendhin gehören

Benda, Jaspers, Lukács – drei Anregungen zur deutschen Frage. von stefan ripplinger

Bin ich links? Diese Frage raubt mir nicht den Schlaf. Schreiben wir denn das Jahr 1937 und befinde ich mich in einem Moskauer Hotel? Nein. Bin ich Mitglied einer Partei, eines Zirkels, einer Redaktion oder eines Fußballvereins und muss es mir gut überlegen, bevor ich den Ball über die Linie kicke? Auch nicht. Bin ich Andrea Nahles? Ganz gewiss nicht.

Für eine bloße Angelegenheit der Linienrichter halte ich deshalb die Frage, ob die Deutschfeindlichkeit links sei. Historisch gesehen ist sie das nicht, denn deutsches Volk, deutsche Nation wurden ja zuerst auf der Linken ins Spiel gebracht; Ludwig Börne und Arnold Ruge richteten ihre antinationalen Polemiken gegen linke, nicht gegen rechte Gegner. Rechte erkannten mit Franz Grillparzer den Weg vorgezeichnet »von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität«.

Sobald sich aber die von Linken aufgebrachten Ideen ein wenig gesetzt haben, bedient sich die Rechte ihrer und wendet sie dann gegen die Linke selbst. Das gilt wie für den Begriff der »Rasse« und den der »Zinsknechtschaft«, auch für die von »Volk« und »Nation«. Aber waren die Sozialdemokraten bloß deshalb vaterlandslose Gesellen, weil Bismarck sie als solche hingestellt hat? – Schau sie dir doch an.

Links können die Feinde Deutschlands auch in anderer Hinsicht kaum sein. Denn die stärkste Macht, von dem das Deutschtum bedroht wird, ist weder die Loony Left, noch sind es die Vereinten Nationen oder die Vereinigten Staaten, es ist der globale Kapitalismus. Bekanntlich ist er nicht nur grausam, sondern auch ein köstlicher Gleichmacher. Dank seiner gibt es Schuhplattler in Kanada und Ahornsirup in Oberbayern. Dank seiner werden Eigenheiten zu Austauschbarkeiten, absolute Werte zu relativen. Dank seiner vergehen patriotische Stimmungen wie Zucker im Kaffee. Darf aber ein Linker dem Kapitalismus etwas Gutes abgewinnen? Mit Marx ja, mit allen anderen Ahnherren des Sozialismus nicht.

Daher wird die große Aufgabe, die Gegnerschaft zu Deutschland auf linkem Kernland aufzurichten und das Ökonomische auf das Politisch-Historische, das Amoralische auf das Moralische sinnvoll zu beziehen, noch manchen Dialektiker verschleißen. Doch das sind die Probleme der Vordenker, nicht die der Denker, von Parteien, nicht von Einzelnen. Einzelne müssen nichts voreilig vereinheitlichen, und sie dürfen zur Schärfung ihrer antinationalen Sensibilität auch Schriften heranziehen, die dem echten Linken anrüchig sein müssen. Ich will hier auf drei hinweisen.

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Kurz nachdem Julien Benda 1927 seinen Essay »La trahison des clercs« (Der Verrat der Gelehrten) veröffentlichte, schrieb Walter Benjamin in einer Rezension, er halte dieses Büchlein für reaktionär. Das hat seinen Grund. Benda, ein zum Katholizismus konvertierter jüdischer Dandy, predigte, der Welt zu entsagen. Worunter der junge Georg Lukács litt, das »Nirgendhin-gehören-Können«, war ihm ein Quell der Freude (und seinem Sarg, heißt es, folgte nicht einmal ein Hund). Als Benjamin oder Lukács versuchten, die Bewegung der Geschichte zu erkennen und sich in die Politik zu fügen, gelobte Benda feierlich, aus ihr auszuscheren.

Er fühlte sich berechtigt, »hochmütig auf die kleinen Kämpfe der Welt herabzublicken und sie zu verachten« (Lukács). Doch von seinem aristokratischen Standpunkt aus hat er mehr gesehen als andere: »Die Lehre der modernen Gelehrten bezeichnet den Triumph der germanischen Werte und den Untergang der hellenischen.«

Luther, Fichte, Nietzsche – Benda weiß, woher der Kult der Härte, des Krieges, des Erfolgs, der Aktion stammt. »Die französischen Gelehrten haben fremden Kulturen noch Gerechtigkeit erwiesen, als die Lessing, Schlegel, Fichte, Görres in ihren Herzen längst schon die Verehrung alles dessen, ›was deutsch ist‹, züchteten, die Verachtung alles dessen, was es nicht ist. Der nationalistische Gelehrte ist wesentlich eine deutsche Erfindung.«

Als das Deutschtum auf seinem traurigen Höhepunkt angelangt war, saß Georg Lukács in Moskau. Den Nazis war er entgangen, den Säuberungen auch. Er sah sich vor die Aufgabe gestellt, das deutsche Denken einer Prüfung zu unterziehen, denn immerhin bildete es die Unterlage seiner Philosophie, wenn er sich auch früh gegen den Hegelschen »Volksgeist« verwahrt hat. Aus dieser Prüfung ging unter anderem der Aufsatz »Über Preußentum« (1943) hervor, der wie eine historische Fußnote zu Bendas Antigermanismus erscheint.

Einen Kult der Härte habe es auch im alten Rom und bei den Jakobinern gegeben und nicht nur im preußischen Deutschland, dessen Pflichtethik eben nicht nur hart, sondern auch maschinenhaft, bürokratisch, starr und vor allem hohl ist. Die preußische Härte ist indifferent gegen alle Inhalte, sie exekutiert heute das Kriegsziel, morgen die Agenda 2010. Ins Korsett dieser Pflicht konnten Hitler und seine Spießgesellen stopfen, was sie wollten; man denkt unwillkürlich an Adolf Eichmanns kalte Beflissenheit, sein Bekenntnis zu Pflicht und Kant. »Ein Hexensabbat, dirigiert vom preußischen Korporalstock der Nazis zur Bedienung des reaktionären Imperialismus: das ist die letzte Steigerung im Verfaulungsprozess des Preußentums.«

Karl Jaspers, ein Philosoph, den Lukács später als »faschistisch« verdammt hat, steht in dieser preußisch-protestantischen Tradition der Pflicht und des Kategorischen Imperativs. Dennoch legte er mit »Die Schuldfrage« (1946) die eindringlichste und sorgfältigste Untersuchung der Katastrophe vor.

Was man auch immer von seiner Philosophie halten mag, sie schonte den Philosophen nicht. Kann einer schuldig geworden sein im Nazismus, ohne auch nur die Hand gegen irgendjemanden erhoben zu haben? Jaspers, der in Deutschland geblieben war, hielt es nicht nur für möglich, sondern für gegeben. »Dass ich noch lebe, wenn solches geschehen ist, legt sich als untilgbare Schuld auf mich.« Das ist ein Satz, dem anzumerken ist, dass er durch lange deutsch-christliche Tradition hindurchgegangen ist, und der sich doch so fern wie nur denkbar von der Haltung der Deutschen, nicht nur denen des Jahres 1946, befindet.

Lukács und Jaspers haben, jeder auf seine Weise, ihre Grundlagen überprüft. Sie haben, als sie über Deutschland nachdachten, auch über sich selbst nachgedacht. Nicht nur das unterscheidet sie von denjenigen deutschen Gegnern des Deutschtums, die so tun, als stünde Deutschsein zur Wahl, sodass, wer es nicht sein wollte, es nicht sein müsste. Aber so leicht schütteln wir das Erbe nicht ab. Benda hat darauf hingewiesen, dass urdeutsches Denken längst ins europäische eingesickert ist. In Paris und Rom begegnen wir unsern Meisterdenkern und Mustern wieder, obwohl sie dort seltsam zivilisiert erscheinen.

Solange die kapitalistische Moderne die Gegenkräfte des Germanismus auf den Plan ruft, bleibt die deutsche Ideologie aktuell. Sie wirkt auch in denen fort, die ihre Meister gar nicht kennen. Zur Abwehr dieser Ideologie sind nur bedingt Linke, aber unbedingt Leser erfordert. Und es wäre bereits ein undeutscher Zug, wenn einer, den das Thema angeht, nicht gleich dem ersten Impuls nachgäbe und einen antideutschen Verein gründete.