Verpasste Chancen

In den Pariser Banlieues gab während der vergangenen Jahrzehnte die Kommunistische Partei den Ton an. Die Interessen von Immigranten spielten nur eine untergeordnete Rolle. von kolja lindner, paris

Die Ordnung muss wiederhergestellt werden«, lautete am vorletzten Sonntag eine der zentralen Botschaften einer Presseerklärung der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) zu den derzeitigen Vorstadtkrawallen. In dieser Forderung weiß man sich in der Pariser Parteizentrale mit der bürgerlichen Rechten einig. Weitere Gemeinsamkeiten sind jedoch nicht auszumachen. Während die konservative Regierung vorige Woche den Notstand verhängte, forderte der PCF am Mittwoch in einem Kommuniqué, »alle Personen, Männer, Frauen, Jugendliche, Abgeordnete, Vertreter des öffentlichen Dienstes und Vereinigungen, die in der aktuellen Situation etwas tun, zu versammeln, um ihre Bedürfnisse anzuhören und Antworten zu entwickeln«.

Nichts weniger als das nunmehr Eingeforderte hat der PCF in den vergangenen Jahrzehnten jedoch unterlassen bzw. verfehlt. So zumindest lautet eine der Schlussfolgerungen der vor zwei Jahren unter dem Titel »La gauche et les cités« veröffentlichten Studie des in Metz lehrenden Soziologen Olivier Masclet. Der PCF, lange Zeit die mit Abstand bedeutendste Partei in den derzeit von Ausschreitungen am stärksten betroffenen Vororten des Pariser Nordostens, habe die zweite Generation nordafrikanischer Immigranten so gut wie gar nicht in politische Entscheidungsprozesse einbezogen. Weder auf kommunaler, noch auf Départementsebene gebe es Immigranten oder deren Kinder in politischen Funktionen, die mit mehr als symbolischen Vollmachten ausgestattet sind. Letztlich, so schlussfolgert Masclet, habe sich der PCF damit selbst seines guten Verhältnisses zu den Unterklassen beraubt.

Auf der Suche nach den Ursachen für das, was Masclet ein »verpasstes Zusammentreffen« von Parteikommunisten und Immigranten nennt, muss man historisch ein bisschen weiter zurückgehen. Seit den fünfziger Jahren kommt es in den nordöstlichen Pariser Vorstädten zur massiven Ansiedlung vor allem nordafrikanischer Arbeitsimmigranten. In dieser Zeit überschneidet sich die Strategie des französischen Kapitals, aus Kostengründen in außerstädtischen Gegenden zu investieren, mit den Zielen der nationalen Politik, die zum Zwecke besserer Kontrolle auf eine Konzentration der Immigranten setzt. Die Zahl der Angesiedelten überschreitet jedoch schon bald die der zur Verfügung gestellten Wohnungen, und so entstehen erste Elendsviertel.

Die auf Facharbeiter und Angestellte fixierten parteikommunistischen Lokalpolitiker nehmen die neuen Nachbarn überwiegend als Teil bereits überwunden geglaubter proletarischer Verelendungsprozesse wahr. Politisch richtet man sich zwar nicht gegen die Immigranten als solche, wohl aber gegen die Drohung des sozialen Abstiegs, den sie zu repräsentieren scheinen. So entsteht eine absurde Konstellation: Während die Lebensbedingungen der eigenen, weißen französischen Wählerschaft ständig verbessert werden, wird mit allen legalen Mitteln, wie etwa der Verweigerung von Müllentsorgung und von Stromanschlüssen, versucht, einen Ausbau der Baracken, in denen Immigranten hausen, zu verhindern.

Als in den sechziger Jahren die Situation in den Elendsvierteln gänzlich unerträglich zu werden droht, siedelt die vom PCF gestellte Kommunalverwaltung die Immigranten in Transitunterkünfte um. Diese werden von anderen Parteien jedoch schon kurze Zeit später als »Ghettos« denunziert. Gegen einen weiteren Umzug in die in diesem Zeitraum errichteten Sozialwohnungsbauten sperrt sich allerdings die örtliche Präfektur. Immigranten sollen die kostengünstigen Wohnungen nur nach festgelegten Quoten beziehen können, dabei werden europäische Einwanderer vor nichteuropäischen bevorzugt. Zudem wird Neubeziehern der Hochhäuser, die keine Migranten sind, eine Reihe finanzieller Privilegien eingeräumt.

Die durch diese Lokalpolitik verursachte und durch die nationale Wohnungspolitik in den achtziger Jahren verstärkten rassistischen Hierarchien sind ein wichtiger Faktor für die heute viel beklagte Frustration von Jugendlichen aus Immigrantenfamilien in den Vororten. Die maßgebliche Ursache für die Krawalle der letzten Wochen ist die jahrzehnte lang währende systematische Ausgrenzung und nicht eine dieser Tage in der französischen Presse viel beschriebene Wut über eine »falsch betriebene Integration«.

Doch der gegenwärtige mediale und wissenschaftliche Diskurs kaschiert nicht nur die rassistische Politik der Vergangenheit. Vielmehr schafft er erst das Bild einer apathischen und sich ausschließlich mittels Gewalt artikulierenden Bevölkerung. Masclets Studie zeigt, dass diese Darstellung so hegemonial wie falsch ist. Die von ihm untersuchten so genannten militants de cité, »Vorstadt-Aktivisten«, stehen für eine Handlungsfähigkeit von unten, die gegenüber den klassischen parteikommunistischen Politikformen keine Legitimität besitzt. Dem herrschenden Diskurs wirft Masclet vor, »a priori jede Form der Mobilisierung von Unterklassen zu entwerten und die politischen Bedeutungen von solidarischen Praxen zu verdunkeln, wie sie in den Vorortvierteln sichtbar sind«.

Indem er die Aktions- und Bewegungsformen einer zwar oftmals über die französische Staatsbürgerschaft verfügenden, von ökonomischer und politischer Teilhabe jedoch dennoch ausgeschlossenen Immigrantenbevölkerung nicht anerkannt hat, hat der PCF in den achtziger Jahren quasi ein zweites Mal den Anschluss an die neuen Unterklassen verpasst. Diese Jahre markieren nicht nur die völlige Diskreditierung der parteikommunistischen Linken, sondern auch die Hinwendung zu anderen Parteien, im Fall der Immigranten unter anderem zur bürgerlichen Rechten, im Fall des so genannten white trash vielfach zum rechtsextremen Front National. Dieser erhielt in den einstigen Bastionen des PCF bei Kommunalwahlen in den achtziger Jahren erstmals Wahlergebnisse um 20 Prozent, während die Kommunistische Partei von ihren etwa 80 Prozent gut 30 Prozent einbüßte.

Dieser Trend hat sich in den neunziger Jahren fortgesetzt. Auch Immigranten und ihre Nachkommen wurden nicht stärker eingebunden. Städtische Initiativen richten sich bevorzugt an jene Bevölkerungsgruppen der Vorstädte, die über viele kulturelle und ökonomische Ressourcen verfügen, und nicht an Immigranten und ihre Nachkommen.

Zweifellos darf sich die Analyse parteikommunistischer Lokalpolitik im Norden und Osten von Paris nicht in Voluntarismus ergehen. Außer Frage steht, dass emanzipatorische Politik in Gegenden großer Armut vor besondere Herausforderungen gestellt ist. Doch neben den sicher sinnvollen Mobilisierungen gegen die repressive Antwort der bürgerlich-rechten französischen Regierung auf die derzeitigen Ausschreitungen, wäre im PCF angebracht, was lange Zeit nur ein regressives Ritual des Parteikommunismus war: Selbstkritik.