Zu viele Freiheiten

Die Autoritäten schlagen zurück von carlos kunze

Fast drei Wochen hält die Revolte in den französischen Vorstädten mittlerweile an, und schon allein die Dauer und die räumliche Ausdehnung der Unruhen haben die kapitalistische Normalität, in die sich die Bürger fügen, aufgelöst. Doch außergewöhnliche Umstände erfordern auch außergewöhnliche Maßnahmen.

Dementsprechend hat der französische Staat in der vergangenen Woche mit der Verhängung des Ausnahmezustands auf die Unruhen reagiert, dessen wichtigste Maßnahme eine Ausgangssperre darstellt. Auch wenn diese lediglich in sechs der 100 Départements verhängt wurde, so hat sie dennoch dazu beigetragen, dass die Anzahl der flambierten Autos pro Nacht beträchtlich abgenommen hat. Am Montag beschloss das französische Kabinett die Verlängerung des Ausnahmezustands, der zunächst bis zum 20. November gelten sollte, um drei Monate.

Das ist hart. Nicht einmal im Mai 68, als ein wilder Generalstreik Frankreich paralysierte, wurde der Ausnahmezustand verhängt. Aber deswegen steht keineswegs schon ein neuer Faschismus vor der Tür, wie es einige alarmistische Rufer nahelegen. Seit Beginn der Emeute wurden knapp 2 000 Jugendliche festgenommen, aber es steht nicht zur Diskussion, das Militär in den Banlieues einzusetzen. Das hätte wohl zur Folge gehabt, dass sich die Gewerkschaften und die parlamentarische Linke gegen die durch die Unruhen sowieso geschwächte konservative Regierung gewandt hätten – ein allzu gefährliches Spiel für sie. Und die Flics haben bislang keine scharfen Waffen eingesetzt, auch wenn vereinzelt auf sie geschossen wurde.

Die polizeiliche Eindämmung der Revolte soll, so heißt es, durch sozialpolitische Maßnahmen in den Banlieues ergänzt werden. Die EU hat finanzielle Hilfen für Frankreich angekündigt, zunächst in Höhe von 50 Millionen Euro, die möglicherweise längerfristig bis zu einer Milliarde Euro aufgestockt werden könnten. Das ist ein unmittelbares Resultat der Unruhen, die insofern auch als »collective bargaining by riot« interpretiert werden können.

Doch auch wenn der französische Staat zur autoritären Krisenverwaltung übergeht, bedeutet das keineswegs, dass solche Tendenzen in der Gesellschaft nicht aufzufinden sind, und zwar auch jenseits der rassistischen oder faschistischen Reaktionen, auf deren Kritik die Linke sich so gerne beschränkt. Ein klassisches Muster für das systematische Ausblenden dieser Gefahr bietet Yann Moulier Boutang, Fan einer unbestimmten »Multitude«, die er in den Unruhen aufzufinden meint, in seinem Text »Die alten neuen Kleider der Republik«. Er schreibt: »Indem sie wütend geschrien haben, dass die Republik nackt ist, haben die Aufständischen die Gesellschaft verteidigt. Und wir sagen sehr ruhig, und auch unerschütterlich, damit sie wissen, dass sie nicht alleine sind: ›Man muss die Gesellschaft verteidigen.‹«

Das ist in Anbetracht einiger Reaktionen aus »der Gesellschaft« mehr als blauäugig. »Frankreich ist ein demokratisches Land, es garantiert Frauen und Kindern Rechte«, sagt etwa der Direktor der Bilal-Moschee in Clichy-sous-Bois, Abderrahman Bouhout. Das scheint ihm nicht zu passen: »Doch die Eltern haben nichts mehr in der Hand. Wenn sie ihren zwölfjährigen Sohn schlagen, kommt die Polizei.« Und der 68jährige Abdelhalim Salah wird von AFP mit den Worten zitiert: »Es gibt zu viele Freiheiten.« Die Regierungspolitik unterwandere die elterlichen Kontrollmöglichkeiten.