Königliche Wahrheiten

Als erste arabische Regierung hat die Monarchie Marokkos Menschenrechtsverletzungen von einer Kommission untersuchen lassen. Allerdings nur die vor 1999 begangenen. von tobias müller

Das Land mit seiner Vergangenheit versöhnen, die Opfer entschädigen und ihre Würde wieder herstellen – so beschrieb König Mohammed VI. die Ziele der Instance Equité et Réconciliation (IER), der ersten in einem arabischen Land eingesetzten Wahrheitskommission zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen. Ende November läuft ihr Mandat aus – zum zweiten Mal, nachdem der König ihr im April wegen einiger noch ungeklärter Fälle einen Aufschub gewährt hatte.

Durch 22 000 Dossiers hat sich das 17köpfige Gremium im Verlauf eines Jahres gearbeitet. Eine imposante Zahl, die die Ausmaße der Repression während der so genannten bleiernen Jahre deutlich macht. Für diese Zeit ist der Name Hassans II., des Vaters und Vorgängers Mohammeds, ein Synonym. Sein Sohn dagegen wünscht, dass sein Name für Aufklärung und demokratische Reformen stehen soll.

Um den Bruch in der Familien- und Staatsgeschichte verträglich zu gestalten, wurden der Kommission einige Beschränkungen auferlegt. Dem Gremium fehlten jegliche juristischen Befugnisse, was eine strafrechtliche Verfolgung der Täter von Anfang an ausschloss. In den 20minütigen Zeugenaussagen durften zudem weder der Name des Königs noch die seiner ausführenden Organe genannt werden. Charakteristisch schließlich ist die Beschränkung auf Vorfälle zwischen dem Unabhängigkeitsjahr 1956 und 1999, dem Jahr, in dem Mohammed VI. den Thron bestieg und die Kontrolle über den Sicherheitsapparat übernahm.

Die Botschaft ist deutlich: Die blutige Vergangenheit unter Hassan II. soll aufgearbeitet werden, um Mohammed VI. als Reformer herauszustellen. Es darf jedoch nicht darüber gesprochen werden, dass es ungeachtet der demokratischen Rhetorik weiterhin ständig Verstöße gegen die Pressefreiheit, die unlängst eskalierte alltägliche Repression in der Westsahara und Menschenrechtverletzungen in den Gefängnissen gibt.

Von den unabhängigen Menschenrechtsorganisationen äußert insbesondere die Association Marocaine des Droits de l’Homme (AMDH) Kritik. Sie lehnt Zugeständnisse in puncto Straffreiheit ab und wirft der Wahrheitskommission vor, sich mit Halbwahrheiten zufrieden zu geben. Die gemäßigte Organisation Marocaine des Droits de l’Homme sowie die Vereinigung der ehemaligen politischen Gefangenen, das Forum Verité et Justice (FVJ), akzeptieren dagegen die Amnestie. Zumindest offiziell, verfolgt das FVJ doch eine Art Doppelstrategie, indem es sich zwar zu den »Realitäten Marokkos« bekennt, aber zusammen mit der AMDH inoffizielle Parallelanhörungen ohne Redebeschränkung organisierte.

Einige Zugeständnisse haben die Menschenrechtsorganisationen immerhin duchsetzen können. Ursprünglich hatte der Palast vorgesehen, mit Hilfe einer eilends einberufenen Schlichtungskommission die Opfer zu entschädigen und den Ballast der bleiernen Jahre im Schnellverfahren zu entsorgen. Den Menschenrechtlern gelang es, das Thema mit gemeinsamen öffentlichen Aktionen seit 2001 so lange auf der Agenda zu halten, bis die Regierung Anhörungen zustimmen musste.

Mohammed VI. wollte zunächst den hofeigenen Menschenrechtsrat Conseil Consultatif des Droits de l’Homme, in dem sich Protagonisten des alten Regimes tummelten, als Kommission installieren. Die Menschenrechtsgruppen drängten dagegen auf eine unabhängige Institution. In der Wahrheitskommission konnten sie zwar deutlich mehr Einfluss nehmen, die Vertreter des Palastes hatten als Leiter der Instanz jedoch noch immer die Oberhand. Letztlich ging es nicht um vollständige Aufklärung, vielmehr sollten nur jene Teilwahrheiten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, mit denen das System weiter existieren und die es in die Staatsdoktrin von »Gott, Vaterland und König« integrieren kann.