Die Welt ist rund

Der nationale Fußball wurde vom modernen, multinationalen Fußball ähnlich an die Wand gespielt wie die Wildecker Herzbuben von Madonna. von martin krauss

Das Motto der Fußballweltmeisterschaft 2006, die im Sommer in Deutschland stattfindet, lautet: »Die Welt zu Gast bei Freunden«. 31 der 32 teilnehmenden Mannschaften, so wird es nahe gelegt, kommen also angereist, um sich einmal jenseits der Welt aufzuhalten, nämlich in einer Gegend, deren Bewohner nicht nur den 32. Teilnehmer stellen, sondern auch beschlossen haben, sich mindestens vier Wochen lang der Welt gegenüber wie Freunde zu verhalten.

Das Motto lädt also dazu ein, sich die Fußball-WM einmal mehr als eine Manifestation des deutschen Nationalismus zu beschauen. Dabei ließe diese Betrachtungsweise einunddreißig Zweiunddreißigstel der Bedeutung, die die Fußball-WM auf diesem Globus besitzt, außer Acht. Man sollte – schon weil es bis zum Sommer von genügend begabten Kritikern getan werden wird – nicht nur das Gastgeberland unter Beobachtung stellen, sondern auch die Sache, um die es geht.

In Weltmeisterschaften, so wird nicht selten argumentiert, materialisiere sich der Fußballweltmarkt. Hier zeigten sich die Machtverhältnisse im Weltfußball. In der Teilnahme an der Fußball-WM und in der Mitgliedschaft im Weltfußballverband Fifa drücke sich zudem der Anspruch von Volkswirtschaften aus, wenigstens am Rande als global player mittun zu wollen und zu können. Wer sich nicht zur WM qualifiziert, gilt – in der Sprache der Weltmarkttheoretiker – als Peripherie oder wenigstens Semiperipherie und folglich als draußen.

Aber nicht die fußballerischen Abbilder von Volkswirtschaften treten bei der WM an, sondern ihre verstaateten Formationen: die Nationalmannschaften. Sie tun dies nicht aus materiellem Interesse, sondern aus Gründen der Staatsräson: »Bezeichnenderweise gehörte das Beitrittsgesuch zur Fifa vielfach zu den ersten Amtshandlungen der gerade unabhängig gewordenen Staaten«, hat der französische Politologe Pascal Boniface beobachtet. In Le Monde diplomatique schreibt er: »Als sei dies ebenso natürlich und notwendig wie der Beitritt zur Uno, als beschränke sich die Definition des Staatsbegriffs nicht auf die drei traditionellen Bestandteile Staatsgebiet, Staatsvolk und Regierung, sondern als müsse noch ein viertes, ebenso wesent­liches Element, eine Fußballnationalmannschaft, hinzukommen; als sei nationale Unabhängigkeit durch die Macht definiert, die eigenen Grenzen zu verteidigen, eine Währung auszugeben und internationale Fußballspiele zu bestreiten.« Man kann seinen Konjunktiv ruhig in den Indikativ umschreiben: Über eine Fußballnationalmannschaft zu verfügen, wäre nicht, sondern ist für einen Staat genau so wichtig, wie eine Armee, eine Währung oder eine Polizei zu haben.

Aber das ist eben nicht die Verfügung über den Fußball, sondern nur über die nationale Fußballauswahl – und das ist nicht nur deutlich weniger als die Gesamtheit des in einer Gesellschaft gespielten Fußballs, es ist auch etwas anderes. »Beim Fußball, der schon seit Jahren jede regionale und nationale Bindung aufgegeben hat«, schreibt Dirk Schümer, einer der Vordenker des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, »wird nun für jeden der historische Prozess deutlich, den Karl Marx angesichts der Expansionskraft des Kapitals bejubelte: ›Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet (worden) und werden noch täglich vernichtet … An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Personen untereinander.‹«

Die Bedeutung der Vereine als mit dem Fußball Wert produzierende Einheiten nimmt gegenüber den Nationalstaaten und -mannschaften also tendenziell zu; während gleichzeitig die Fußballweltmeisterschaften eine Bedeutung haben wie noch nie zuvor in der Geschichte. Sind also einerseits die großen Fußballmarken wie Real Madrid, Manchester United, Bayern München oder Juventus Turin schon sehr weit über die nationale Borniertheit hinausgewachsen (und weder sie selbst noch ihre Fans verlangen eine nationale Bindung etwa im Bereich der Spielerverpflichtungen), so gibt es andererseits immer noch die nationale Parteinahme bei Länderspielen.

Klaus Theweleit hat in seinem Buch »Das Tor zur Welt« darauf hingewiesen: Einerseits ist der Fußball von seiner Struktur her international und hat insofern das Zeug, das Begehen so mancher Torheit zu erschweren. Andererseits stellt der Fußball mehr noch als jedes andere kulturelle (oder gar politische) Phänomen die Möglichkeit bereit, sich relativ zivil, gesittet und unaggressiv auf das Feld der nationalen Gefühle zu begeben – etwa, wenn die, wie man dann sagt: »eigene« Nationalelf kurz vor Schluss den entscheidenden Siegtreffer erzielt.

Das Paradoxon lautet also: Im Weltfußball nimmt die Bedeutung der Nation und des Nationalen gleichzeitig zu und ab. Der Ausweg daraus oder die Auflösung lautet vermutlich, dass sich der Fußball eben für beides eignet: für die nationale Präsentation und für eine auf dem Sportweltmarkt stattfindende Wertschöpfung. Nur die Kollektive, die dies bewerkstelligen, sind nicht mehr dieselben: Sind Ajax Amsterdam, Bayern München oder der FC Liverpool früher beinahe ausschließlich mit Spielern, die die entsprechende niederländische, deutsche oder britische Staatsbürgerschaft besaßen, angetreten, so sind es jetzt multinationale Ensembles. Die Nationalmannschaften hingegen bestehen aus Spielern mit der gleichen Staatsbürgerschaft (die aber im Bedarfsfall auch eingekauft werden kann), die sich aber nur selten aus gemeinsamen Vereinsspielen kennen, oft sogar in unterschiedlichen Ligen antreten. Stattdessen kennen die Spieler oftmals ihre Gegenspieler, die für ein anderes Land antreten, aus dem täglichen gemeinsamen Vereinstraining besser.

Sofern er ein ökonomisches Projekt ist, lässt der Fußball das Nationale hinter sich; sofern er ein staatliches Projekt ist, hat das Nationale einen nicht zu unterschätzenden Bedeutungsschub erhalten. So lautet der Befund, und erstaunlicherweise finden sich auch Menschen, die daran etwas zu mäkeln haben: »Regionale Identität, die einmal ein prägendes Element des Fußballs war, kann allenfalls eine folkloristische Nebenrolle spielen, wenn elf Leute aus sechs Nationen und von drei Kontinenten gemeinsam in erster Linie ökonomische Ziele erreichen sollen«, schreibt der österreichische Schriftsteller und Journalist Harald Irnberger in dem Buch »Die Mannschaft ohne Eigenschaften«, das sich kritisch mit der Globalisierung des Fußballs beschäftigt. Am Beispiel der Verpflichtung von Weltstars wie David Beckham und Ronaldo durch Real Madrid beklagt Irnberger, dass das Fußballerische durch die Kapitalisierung verloren gehe, denn die Verpflichtung eines solchen Spielers sei »einzig mit den geschäftlichen Perspektiven zu rechtfertigen, die sich durch diesen Transfer eröffneten. Kurzum, der Mammon war nun eindeutig an die Stelle der Wertehierarchie getreten und der Fußball wurde zu einem Erfüllungsgehilfen degradiert.«

Die Behauptung, dass sich der Fußball da, wo er unter stetem Amortisations- und Verwertungszwang steht, sportlich zurückentwickelt, ist jedoch längst widerlegt. Die Wahrheit zeigt sich durch die Möglichkeiten vergleichender Analyse: Der regional und national geprägte Fußball, der scheinbar (in sportlicher und moralischer Hinsicht) besser war, wurde vom modernen, multinational geprägten Fußball ähnlich an die Wand gespielt wie die Wildecker Herzbuben von Madonna. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn im Sommer die Welt zu Gast bei Freunden ist.