Städteversenken mit Siemens

Im Osten der Türkei droht das kurdische Städtchen Hasankeyf von einem Stausee verschlungen zu werden. Die Bewohner wollen dem Ilisu-Damm trotzen. von thomas schmidinger (text und fotos)

Von Midyat, der alten christlich-syrischen Stadt des Tur-Abdin-Gebirges zwischen Mardin und Cizre, führt eine Straße nach Norden durch eine atemraubende Hügel- und Felslandschaft mit einsamen, von yezidischen Kurden und syrischen Christen bewohnten Siedlungen. Zwischendurch sind Ruinen kurdischer Dörfer zu sehen, die von der türkischen Armee im Krieg gegen die PKK zerstört und bis heute nicht wieder aufgebaut wurden. Der Autobus, der mich nach Hasankeyf bringen soll, wird schließlich von einer Straßensperre aufgehalten. Die Militärpräsenz in Türkisch-Kurdistan ist im vergangenen Jahr wieder deutlicher sichtbar geworden als in den Jahren davor. Die Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch Angehörige der PKK wird nicht nur von Anschlägen des türkischen Militär­ge­heim­­diens­tes begleitet wie am 9. November in Sem­dinli, sondern auch von einer demonstrativen Präsenz der Armee.

Der Bus kann schließlich ohne größere Probleme die enge kurvenreiche Straße weiter nach Norden fahren. Hasankeyf taucht erst hinter dem letzten Hügel auf, kurz bevor man die Stadt erreicht. Vor mir liegt das Ensemble einer mittelalterlichen islamischen Stadt am Ufer des Dincle, des Tigris, der hier noch als kleinerer Fluss von Diyarbakir nach Cizre zur irakisch-syrischen Grenze fließt. Hoch über der Stadt thronen die Ruinen der alten Festung, darunter erstreckt sich ein lebendiges Städtchen mit Moscheen aus der Ayubidenzeit, den Resten einer Tigris-Brücke aus dem 12. Jahrhundert, einigen Kaffeehäusern und einem mittlerweile eher auf die Bedürfnisse türkischer Inlandstouristen ausgerichteten Basar. Dass die heutige Siedlung nur noch der Rest einer einst viel bedeutenderen Stadt ist, zeigt der Blick über den Fluss. Auf der anderen Seite des Tigris sind noch ein mittelalterliches Hamam und die Derwisch-Tekke mit dem Grabmal Imam Abdullahs zu erkennen. Am Fluss sind die Reste antiker Höhlenwohnungen zu sehen.

Die Römer errichteten die Stadt um 120 n. Chr. Mit der Christianisierung wurde die Handelsstadt zum Bischofssitz, ehe sie im Jahr 640 von den Arabern erobert wurde. Die Bevölkerung wohnte teilweise auf dem Festungshügel, teils in den darunter liegenden Höhlenwohnungen, von denen einige wenige bis heute von den ärmsten Bevölkerungsschichten der Stadt bewohnt werden.

Dass die Stadt zwar ein beliebtes Ausflugs­ziel für türkische Tagestouristen, jedoch noch kein Reiseziel des internationalen Tou­rismus geworden ist, zeigt sich nicht zuletzt an den Übernachtungsmöglichkeiten. Außer einem Ögretmenevi, einem Lehrerhaus, in dem schlecht bezahlte türkische Junglehrer, die in den Osten des Landes versetzt wurden, ihren Kurzurlaub verbringen können, gibt es nur ein kleines Hotel am Tigris, in dem für wenig Geld einfache Zimmer mit Gemeinschaftsdusche auf dem Gang zu beziehen sind.

Nachdem ich mich dort eingemietet ha­be, spaziere ich noch hinunter zum Fluss. Dort kann man auf Podesten am Flussufer gegrillten Fisch essen, Kaffee oder Bier ­trin­ken. Zwei Junglehrerinnen aus Izmir, die das Un­ter­richts­ministerium nach Van und Mardin geschickt hat, laden mich dort auf einen Kaffee ein und klagen mir ihr Leid, »am Ende der Welt« unterrichten zu müssen, wie sie meinen. »In Van gibt es nicht einmal eine Disco«, klagt Nilgün, eine schöne junge Frau, die lieber heute als morgen zurück ans Mittelmeer gehen würde. Auf meine Bemerkung, der Van-See sei doch auch schön, beginnt sie über ihre Einsamkeit unter den Kurden zu klagen: »Dort kann ich als Frau nicht einmal allein ein Bier trinken gehen.« Ihre Freundin klagt: »Meinen Schülern muss ich zuerst einmal richtiges Türkisch beibringen.« Auf meine Frage, ob sie denn selbst schon Kurdisch gelernt hätten, wenn sie schon ein ganzes Jahr in Kurdistan lebten, ernte ich nur verständnisloses Kopfschütteln, dafür aber umso mehr Begeisterung, als ich auf die Frage nach meiner Herkunft »Viyana« sage. »Wien würde ich gerne einmal sehen«, meint Nilgün.

Mit den alteingesessenen Bewohnern Hasankeyfs komme ich erst am nächsten Tag ins Gespräch. Auf dem Weg zur Festung begegne ich einem Wasserträger mit einem Esel. Jeden Tag bringt er das Trinkwasser vom Ort hinauf in das Haus seiner Familie. Hier oben wohnen zurzeit noch jene, die sich kein moderneres Haus im Zentrum der Stadt leisten können. Sollten die Pläne der türkischen Regierung verwirklicht werden, könnten sie jedoch die einzigen sein, deren Wohnstätte in Zukunft nicht vom Wasser eines gewaltigen Stausees überflutet wird. Mit dem 135 Meter hohen Ilisu-Staudamm, mit dessen Bau die türkische Regierung ein Konsortium aus dem österreichischen VA-Tech und der deut­schen Siemens AG beauftragen will, würde ein großer Teil des Dincle-Tals, darunter die Stadt Hasankeyf, unter einem gewaltigen Stausee verschwin­den.

Das Unternehmen VA-Tech und die türkische Regierung versuchen, internationale Kritik an dem Projekt, das mit Hasankeyf immerhin eine Stadt unter dem Schutz der Unesco zu versenken droht, mit dem Hinweis abzuwehren, dass die Festung über der Stadt noch aus dem Wasser hervorragen würde und ausgewählte historische Bauwerke versetzt werden sollen. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt haben für solche Pläne allerdings kein Verständnis. »Hasankeyf ist ein Gesamtkunstwerk! Man kann nicht einzelne Gebäude einfach an andere Orte umpflanzen«, erklärt mir ein Lehrer aus der Region, der ebenfalls im Ögretmenevi näch­tigt.

Der Ilisu-Damm ist das Kernstück des Südostanatolien-Projektes (GAP). Bis 2010 sollen über ein Dutzend Staudämme an Euphrat und Tigris errichtet werden. Durch den 300 Quadratkilometer großen Ilisu-Stau­see würden dem »Kurdish Human Rights Project« zufolge 12 000 Anwohner vertrieben werden, weitere 60 000 Bauern würden ihr Land und damit ihre Lebensgrundlagen verlieren.

Die Männer im Kaffeehaus sind entsetzt über den Plan, ihre Stadt zu versenken. Ein alter Mann erklärt mir, wäh­rend er an seinem Tee schlürft: »Ich wurde hier geboren. Ich werde hier ganz bestimmt nicht weggehen. Eher lasse ich mich von diesem Stausee ertränken!« Seine Freunde stimmen ihm zu: »Wir werden sicher nicht in eine neue Stadt ziehen. Wir werden uns mit allen Mitteln zur Wehr setzen.«

Tatsächlich zeigt sich die Stadtbevölkerung noch immer von ihrer trotzi­gen Seite. Schon allein dadurch, dass sie versucht, das Alltagsleben weiter­gehen zu lassen wie bisher. Einige Entschlossene bauen sogar neue Häuser oder richten ihre alten neu her. Was anderswo alltäglich ist, wird hier zum renitenten politischen Akt.

Als ich an der Schneiderwerkstatt und der Bäckerei vorbeispaziere, spricht mich ein alter Mann in gebrochenem Deutsch an. Er hat in den siebziger und achtziger Jahren als Gastarbeiter im Ruhrgebiet gearbeitet. Nach der Verrentung kam er nach Hasankeyf zurück. Wir kommen ins Gespräch, und schließlich frage ich ihn, was er tun werde, wenn der Ilisu-Damm gebaut wird. Er deutet mit seiner rechten Hand eine Pistole an: »Dann gibt es Krieg!«

Doch zwischen Verbitterung und Hoffnung bleibt den Menschen in Hasankeyf auch gar keine andere Wahl, als ihren Alltag weiter zu leben. Bevor ich in den Bus nach Batman steige, besuche ich noch eine Moschee am Rande des Ortes. In das verfallene Gemäuer einer alten ayubidischen Moschee wurde vor wenigen Jahren eine kleine neue Moschee hineingebaut. Ein junger Mann saugt die Teppiche am Boden. Ein ganz alltägliches Bild, und doch denke ich, als der Bus losfährt, ich müsse es mir ganz besonders einprägen. Es könnte meine letzte Erinnerung an Hasankeyf werden.