»Arbeitslosigkeit macht per se krank«

Rolf Rosenbrock

Der Krankenstand in den Betrieben in Deutschland sinkt immer weiter. Fielen im Jahr 2003 noch 13,5 Arbeitstage pro Arbeitnehmer wegen Krankheit aus, waren es nach einer Studie der Betriebskrankenkassen im vorigen Jahr nur noch 11,5 Kalendertage. 43 Prozent der Beschäftigten fehlten sogar an keinem einzigen Arbeitstag. Bei allen Krankheitsarten gibt es eine rückläufige Entwicklung, nur psychische Erkrankungen nehmen zu.

Mit dem Leiter der Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin, Rolf Rosenbrock, sprach Christoph Villinger.

Wird die Bevölkerung in Deutschland jedes Jahr gesünder?

Ja, die Bevölkerung wird im Durchschnitt immer gesünder, sie wird immer älter und bleibt immer länger gesund. Auch der Anteil der mit chronischen Krankheiten verbrachten Jahre nimmt ab.

Diese Durchschnittszahlen verdecken aber die immer größer werdenden sozial bedingten Ungleichheiten von Gesundheitschancen. Wenn wir die in Deutschland lebende Bevölkerung in fünf gleich große Teile nach den Merkmalen Einkommen, Stellung im Beruf und Ausbildung teilen, haben die Menschen im untersten Fünftel von der Wiege bis zur Bahre ein etwa doppelt so hohes Risiko, ernsthaft zu erkranken oder vorzeitig zu sterben, als das oberste Fünftel. Männer aus dem untersten Einkommensviertel leben in Deutschland im Durchschnitt zehn Jahre kürzer als Männer aus dem obersten.

Welche Rolle spielt der Druck, aus Angst vor Entlassung auch krank am Arbeitsplatz erscheinen zu müssen?

Fehltage spiegeln nicht nur die subjektiv empfundene beziehungsweise ärztlich attestierte Krankheit wider, sondern sind immer auch ein Reflex auf die Verhältnisse am Arbeitsmarkt. Bei Vollbeschäftigung wird regelmäßig behauptet, dass jede Menge Arbeitnehmer blau macht. Und bei Massenarbeitslosigkeit? Auf eine Umfrage des DGB im letzten Jahr antworteten 90 Prozent der befragten Betriebsräte, dass immer mehr Arbeitnehmer trotz manifester Krankheit zur Arbeit kommen. Obwohl sie damit in vielen Fällen langfristig ihre Gesundheit schädigen. In allen Untersuchungen ist klar, dass der niedrige Krankenstand in erster Linie ein Reflex der Angst um den Arbeitsplatz ist.

Die Untersuchung beschäftigte sich nur mit den Erwerbspersonen. Ist, wer öfters krank wird, nicht schon längst entlassen?

In Deutschland werden nach wie vor ältere Beschäftigte und gesundheitlich Angeschlagene aus dem Arbeitsleben herausgedrückt. Über die Hälfte der Betriebe beschäftigt keine über 50jährigen mehr. Dazu kommt, dass Arbeitslosigkeit per se auch krank macht. Wer länger als zwölf Monate arbeitslos ist, wird im Durchschnitt doppelt so häufig ernsthaft krank wie Menschen in Lohn und Brot.

Warum nehmen allein die psychischen Erkrankungen zu?

Zum einem wird heute mehr und besser diagnostiziert. Heute gelten Menschen als psychisch krank, die sich früher irgendwie durchgewurstelt hätten. Zum anderen führen der wachsende Arbeitsdruck und die Verdichtung des Arbeitstages zu einer erhöhten psychischen Belastung. Dazu kommt die Angst um den Arbeitsplatz und vor Rationalisierungen.

Welche Rolle spielt die Veränderung der Arbeitswelt? Passieren in einer Dienstleistungsgesellschaft weniger Unfälle?

Die ständig zurückgehenden Zahlen der Arbeitsunfälle sind in erheblichem Umfang kein Ergebnis erfolgreicher Prävention, sondern des Rückgangs »gefährlicher« industrieller Arbeitsplätze. Aber Dienstleistungsarbeit wie zum Beispiel in Call-Centern unter hohem Zeitdruck bei sehr geringem Entscheidungsspielraum der Beschäftigten führt zu psychischen Belastungen.

Tauchen eigentlich all die Beschäftigten mit Werkverträgen, Selbständige und Minijobber in den Untersuchungen auf?

Die jetzt veröffentlichten Zahlen beziehen sich auf alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die Selbständigen sind darin nicht enthalten. Aber die zunehmende Prekarisierung bei Arbeitsverhältnissen, also Zeitarbeitsverträge, Scheinselbständigkeit, unfreiwillige Teilzeitarbeit oder Arbeit auf Abruf, belastet als eigenständiger Faktor die Gesundheit.

Bedeutet der bessere Gesundheitszustand der Gesellschaft nicht generell, dass die Präventionsprogramme der Krankenkassen greifen?

Die Modelle der betrieblichen Gesundheitsförderung zeigen hervorragende Ergebnisse, wenn sie vollständig und regelgerecht angewendet werden. Sie führen im Durchschnitt zu 25 Prozent weniger Arbeitsunfähigkeitstagen wegen Krankheit, bei gleichzeitig steigender Arbeitszufriedenheit. Das Problem dieser Programme ist ihre Verbreitung. Nur rund 1 000 deutsche Unternehmen wenden sie vollständig an, darunter große Unternehmen wie Volkswagen und Bertelsmann, allerdings kaum kleine und mittlere Unternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten, in denen mehr als die Hälfte der Beschäftigten zu finden ist. Diese Programme zielen primär auf eine Veränderung der strukturellen Situation am Arbeitsplatz, erst in zweiter Linie auf eine Veränderung des individuellen Verhaltens, wie zum Beispiel das Rauchen.

Aber sind diese Programme nicht sehr widersprüchlich – einerseits soll man sich bei der Arbeit entspannen, andererseits ist man dem kapitalistischen Konkurrenzdruck ausgesetzt?

Den Unternehmen mit solchen Präventionsprogrammen kommt es darauf an, die Arbeitskräfte langfristig zu motivieren und zu qualifizieren, um die gewünschte Arbeitsleistung von ihnen zu erhalten. Das steht klar im Widerspruch zu Managementansätzen, die auf kurzfristige Profitmaximierung setzen. Für die wird Gesundheit erst dann zu einem Problem, wenn sie beschädigt ist, wenn es also zur Arbeitsunfähigkeit kommt.

Die Menschen lassen sich nicht nur seltener krankschreiben, sondern gehen auch sonst immer seltener zum Arzt. Welche Rolle spielt die Praxisgebühr?

Natürlich beschädigt die Praxisgebühr einen der Pluspunkte des deutschen Sozialsystems, den Zugang zu einer hochwertigen und vollständigen Krankenversorgung ohne soziale und ökonomische Barrieren. Nach Einführung der Praxisgebühr haben von den Menschen mit weniger als 1 000 Euro Monatseinkommen etwa 20 Prozent einen Arztbesuch verschoben oder ganz unterlassen. Infolge der Praxisgebühr unterbleiben sowohl überflüssige wie notwendige Arztbesuche, die gewünschte steuernde Wirkung wird nicht erreicht.

Zurzeit diskutiert die Regierung wieder über das Gesundheitswesen. Was halten Sie von den zentralen Thesen?

Entgegen landläufigen Behauptungen haben wir keine Kostenexplosion, obgleich in der Krankenversorgung nach wie vor viel Geld verschleudert wird. Aufgrund des Sinkens der Lohnquote gibt es eine sinkende Basis für die Berechnung der Beiträge, die infolge dessen steigen. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen liegen seit 20 Jahren stabil bei ca. sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Auch die Alterung der Bevölkerung ist im bestehenden System gut aufzufangen. Nur bei der Pflegeversicherung gibt es wirklich ein Problem.

Auch die großen medizintechnischen Entwicklungen der letzten 30 Jahre konnten mit dem bestehenden Krankenversicherungssystem beitragsneutral aufgefangen werden. Die Reden von den verheerenden Folgen des demografischen Wandels sind Panikmache und keine Analyse. Ebenso gibt es keine Anspruchsinflation. Es gibt keinerlei empirische Belege dafür, dass die Ansprüche der Bevölkerung beständig steigen oder gar die materiellen Möglichkeiten übersteigen.