Die Gitarre umschnallen

Authentizität ganz ohne Doku-Schnipsel: Joaquin Phoenix lässt in »Walk the Line« Johnny Cash wieder auferstehen. von ivo bozic
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Was sind eigentlich echte Stars? Jesus? Mahatma Gandhi? Vielleicht. Etwa 60, vielleicht waren es auch 150 Jahre, vergingen nach der Kreuzigung Jesus, bis jemand auf die Idee kam, die Lebensgeschichte dieses irren Freaks einmal aufzuschreiben. 34 Jahre gingen nach dem Tod Gandhis ins Land, bis man ihm ein filmisches Denkmal setzte. Und da stellt sich doch die Frage, was haben uns diese »Stars« denn tatsächlich hinterlassen, was zum Teufel verdanken wir ihnen? Unter uns, es ist nicht viel. Ein wenig Moralkitsch, Westentaschen-Lebensweisheiten für Dünnbrettbohrer. Sie spielen in der Liga Hermann Hesse, sorry, aber that’s all. Johnny Cash hingegen verdanken wir quasi alles. Er prägte die Musik vom frühen Rock’n’Roll bis in die jüngste Gegenwart. Vor nicht einmal drei Jahren starb er, da waren die Arbeiten an dem Film über ihn schon in vollem Gange. Warum? Weil ER ein wirklicher Star ist!

Und das Denkmal, das ihm James Mangold mit dem Film »Walk the line« gesetzt hat, ist ein würdiges. Was könnte man Besseres über einen Film sagen? Wer also noch einen fiesen Verriss erwartet, kann hier aufhören zu lesen. Sicher, die Liebesgeschichte zwischen Johnny Cash und June Carter dominiert den Film in der zweiten Hälfte stark und neigt zur Kitsch­erzählung von der großen, wahren Liebe, aber das Leben ist ja auch oft kitschig – und obwohl so ziemlich jeder Film eine Liebesgeschichte zumindest zum Subplot hat, muss ich sagen, dass ich noch keine schönere, überzeugendere, geradlinigere gesehen habe. Im Film nicht, und nicht im wahren Leben. »Walk the line« ist übrigens beides. Ohne Doku-Schnipsel, ohne Cash-Einspielungen erleben wir eine Authentizität, die atemraubend ist.

Das mag zum einen daran liegen, dass Cash und seine Frau June Carter an der Entwicklung des Films beteiligt waren, dass der Regisseur mit ihnen alles besprach, dass sie das Drehbuch noch lesen konnten, bevor sie im Jahr 2003 kurz nacheinander starben.

Vor allem aber liegt es an Joaquin Phoenix, der die Rolle des Johnny Cash spielt – und mehr als das: Er lässt Cash wieder auferstehen. Es ist eine dermaßen großartige schauspielerische Leistung, dass man sich vor Ergriffenheit in den Staub werfen möchte. Aber nicht nur der Leistung Phoenix’ ist dies zur verdanken. Mangold hat aus Phoenix einen wahren Cash gemacht, in dem er ihn ermutigt hat, nicht Cash zu parodieren, nicht ihn zu spielen, sondern Cash zu sein. Alle Songs, alle Konzert-Auftritte, alle Gesangseinlagen sind Originalton Phoenix, kein Playbacksingen zu Cash-Einspielern. Und ebenso glänzt an seiner Seite Reese Witherspoon als June Carter, die ebenfalls alles selber singt und dem Film damit tausendmal mehr Realismus verleiht, als dies mit dem üblichen Verfahren, Original-Sequenzen einzuspielen, hätte erreicht werden können.

Der Film beantwortet eigentlich alle Fragen zum Thema Rock’n’Roll, die es wert sind, erörtert zu werden, er erklärt außerdem, wie Männer funktionieren, und gibt ganz beiläufig Einblicke in die US-amerikanische Geschichte, sogar ein junger unbekannter Typ namens Elvis Presley taucht auf. Was will man mehr? Dass der Film 1968 endet, in dem Jahr, in dem ich geboren wurde, war schon etwas unheimlich. Da hatte Cash schon eine Traumkarriere, den Abstieg in die Drogenhölle und sein Comeback hinter sich, außerdem eine Ehe inklusive Familiengründung, und stand vor der zweiten. Und dann ging sein Leben ja noch einmal ganz von vorne los. Hat er uns nicht in den Neunzigern noch begleitet wie ein guter Freund? Man könnte problemlos einen ähnlich aufgeladenen Film über die zweite Hälfte von Johnny Cashs Leben drehen, und das wird sicher auch eines Tages geschehen, es sei denn, nach dieser Vorlage traut sich keiner mehr an den Stoff. Denn übertreffen lässt sich das kaum.

Es beginnt alles mit Cashs Kindheit auf einer Baumwollplantage, mit dem Tod seines Bruders und mit seiner Zeit als GI in Deutschland. Zurück in den Staaten heiratet er 1954 seine Jugendliebe und zieht nach Memphis. Bald schon schafft er mit »Cry, Cry, Cry« den Durchbruch als Musiker und nimmt 1957 seine erste Langspielplatte auf. Ein zermürbendes Tourleben beginnt, und der Konsum von Amphetaminen nimmt gigantische Ausmaße an. Autounfälle, Aussetzer auf der Bühne und ein kurzer Gefängnisaufenthalt wegen Drogenschmug­gels sind die Folge. 1968 ist er aber wieder voll da. Im Gefängnis Folsom gibt er ein legendär gewordenes Konzert, verhilft dem von seiner langjährigen Weggefährtin June Carter verfassten Song »Ring of Fire« zum Welterfolg und bittet die Sängerin schließlich bei einem Konzert auf der Bühne, ihn zu heiraten.

Da endet der Film, und wenn man nicht wüsste, dass Cash danach noch 35 Jahre weiter gemacht hat, mit allen Ups und Downs, mit eigener Fernsehshow, erfolgreichen Alben und dem Kampf gegen die Parkinson’sche Krankheit, dann könnte man meinen, das wäre der perfekte Höhepunkt, das gelungene Finale eines erfüllten Lebens.

Doch die Story ist eigentlich Nebensache. Das Ereignis ist Joaquin Phoenix. Unter der Leitung des Musikproduzenten T-Bone Burnett musste der Schauspieler zum Sänger werden, Gitarre spielen lernen und mit all dem an den großen Cash herankommen. Auch wenn es nicht darum ging, Cash zu imitieren, so musste er doch die unglaubliche Ausstrahlung, die allein dessen Stimme hat, erreichen. Dass ihm das gelungen ist, ist die größte Sensation dieses Films, und allein deshalb lohnt es, sich ihn anzuschauen, nein, man muss ihn anschauen, wenn man noch irgendwie über Rock’n’Roll mitreden will künftig.

»Du trägst also schwarze Hemden, weil du nichts anderes hast, du hast diesen unglaublichen eigenen Musikstil entwickelt, weil du es nicht besser kannst, und du hättest mich gerade fast geküsst, weil es einfach so passiert ist?« wird Cash von Carter einmal ironisch gefragt. Und obwohl wir wissen, dass es vor dem Hintergrund seiner Kindheit, seines bisherigen Lebens für all das sehr wohl gute Erklärungen gibt, klingt die ungekünstelte Antwort »Äh, ja« wie eine Hommage an das Schicksal, dem sich Cash in seinen Texten immer noch mehr gewidmet hat als der Religion, obwohl er ein gläubiger Mensch war.

So ist »Walk the line« eine Hommage an das Lebensgefühl des Rock’n’Roll, des Punkrock und eine Auseinandersetzung mit dem größten philosophischen Thema: Freiheit versus Geborgenheit. Es ist Zeit, das schwarze Hemd aus dem Schrank zu nehmen und zu bügeln. Es ist Zeit, die Gitarre umzuschnallen und den Stinkefinger rauszustrecken. Es ist Zeit, Jesus und Gandhi zu vergessen. Johnny Cash ist wieder da.

Walk the Line

Regie: James Mangold. Buch: Gill Dennis / James Mangold. Darsteller: Joaquin Phoenix, Reese Witherspoon, Ginnifer Goodwin, Robert Patrick. Start: 2. Februar