Zerstrittene Erben

Nach dem Tod von Ibrahim Rugova steht das kosovo-albanische Statusverhandlungsteam ohne Führung da. von markus bickel

Insgeheim werden viele der Trauergäste erleichtert aufgeatmet haben. Denn von all der Anerkennung, die Ibrahim Rugova nach seinem Tod zukam, war in seinen letzten Lebensjahren so gar nichts zu hören gewesen. Europa-Parlamentarier schimpften über seine mangelnde Fachkenntnis; »von Politik keine Ahnung« war noch eines der milderen Urteile, das in Gesprächen, die nach dem Abschalten der Aufnahmegeräte geführt wurden, über Rugova fiel, der am 21. Januar im Alter von 61 Jahren verstarb. Nur vom Morgen bis zum Mittag habe er zuletzt noch arbeiten können, erzählten in Pristina Leute, die ihn kennen. Und nicht nur der rote Schal des 1992 erstmals zum Kosovo-Präsidenten Gewählten sorgte für Spott: So pflegte der Hobby­geologe ausländischen Besuchern gerne seine Stein­sammlung zu zeigen.

Der Tod des einst pazifistischen ehemaligen Literaten fällt nun ausgerechnet in die vielleicht schwie­rigs­te Phase seit Ende des Kosovo-Kriegs im Sommer 1999. Ursprünglich sollten vorige Woche in Wien Angehörige der kosovo-albanischen und der serbischen Verhandlungsteams direkt miteinander sprechen. Ein erster Schritt auf dem langen Weg der Statusklärung, der aber vorerst auf Februar verschoben wurde. Rugova war als Leiter der Delegation aus Pristina vorgesehen, einem heterogenen Haufen, der neben Hashim Thaci, dem ehemaligen Kommandanten der Kosovo-Befreiungsarmee (UCK) und langjährigen Rivalen des Verstorbenen, auch den Intellektuellen und Publizisten Veton Surroi umfasst. Bereits auf der Kosovo-Konferenz in Rambouillet im Februar 1999 waren die beiden regelmäßig aneinander geraten.

Da Rugova es versäumte, seine unter der serbischen Herrschaft Slobodan Milosevics aufgebaute Demokratische Liga des Kosovo (LDK) zu demokratisieren, gibt es niemanden, der den Platz an der Spitze des von der Uno verwalteten Protektorats einnehmen kann. Junge Politiker wie der Jurist Envar Hoxhaj sind in den vergangenen Jahren zur Demokratischen Partei des Kosovo (PDK) Tha­cis gewechselt – mit dem Ziel, die ehemalige Guerilla-Truppe aus der Opposition heraus zu einer sozialdemokratischen Führungskraft umzugestalten. Der als möglicher Nach­folger genannte Parlaments­präsident Nexhat Dhaci fiel vor einigen Jahren durch resolute Kritik am damaligen Chef der Uno-Protektoratsverwaltung (Unmik), Michael Steiner, auf.

Seit den Wahlen im Oktober 2004 regiert die LDK im Bündnis mit der Allianz für die Zukunft des Kosovo (AAK) von Ramush Haradinaj. Der smarte ehemalige UCK-Kommandant gab seinen Posten als Premierminister im März 2005 auf, nachdem das Uno-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag Anklage gegen ihn erhoben hatte. Bis zum Beginn des Prozesses ist er auf freiem Fuß, darf sich jenseits von Parteiarbeit aber nicht po­litisch betätigen. Sein schwacher Nachfolger an der Spitze der LDK/AAK-Koalition, Bajram Kosumi, dürfte kaum in der Lage sein, die seit Jahren entzweiten Kosovo-Politiker zu einen. Interne Machtkämpfe dürften deshalb auch das Verhandlungsteam schwächen.

Grund zur Erleichterung in Serbien, wo dem innenpolitisch ebenfalls völlig zerstrit­tenen Verhandlungsduo aus Präsident Boris Tadic und Premierminister Vojislav Kostunica ein nahezu aussichtsloser Kampf um den Erhalt des Kosovo innerhalb der Grenzen Serbiens bevorsteht. Denn so vage die Äußerungen mancher EU-Politiker auch sein mögen, gibt es doch in einigen Punkten Gewissheit. Keine Rückkehr zum Status vor März 1999, keine Teilung des Kosovo, kein Anschluss an benachbarte Staaten – das sind die Essentials, auf die sich die Staaten der Balkan-Kontaktgruppe (USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Russland, Italien) für die Verhandlungen im Oktober 2005 geeinigt haben.

Bedeutsam ist dabei vor allem die Tatsache, dass auch Russland, das im Uno-Sicherheitsrat sitzt und ein Veto-Recht hat, eine Rückkehr des Kosovo unter serbische Herrschaft ausschließt. Schon vor drei Jahren zog die russische Regierung die letzten Trup­pen aus der von der Nato geführten Kosovo-Schutz­truppe (Kfor) ab; das Uno-Protektorat, das der Sicherheitsratsresolution 1 244 von Juni 1999 zufolge zu Jugoslawien (heute: Serbien und Montenegro) gehört, hat für die einstige Schutzmacht Jugosla­wiens offenbar an Bedeutung verloren. Dem ent­gegen steht die offensive Rolle, welche die US-amerikanische Regierung seit den antiserbischen Pogromen von März 2004 im Kosovo spielt.

»Ich kann mir keinen anderen Endstatus für das Kosovo vorstellen als die Unabhängigkeit«, verkün­dete etwa Richard Holbrooke, vor zehn Jahren Chef­unterhändler bei den Bosnien-Friedensverhandlungen, auf einer Sitzung des Außenpolitischen Ausschusses des US-Senats. Nicholas Burns, Unterstaatssekretär von Condoleezza Rice im Außenministerium, sprach sich bei der Zusammenkunft im November 2005 ebenfalls für die endgültige Sezession des Uno-Protek­to­rats von Serbien aus – wenn auch etwas diplomatischer. Er habe der kosovo-albanischen Füh­rung bei seinen Besuchen »klar gemacht, dass sie sich die Unabhängigkeit verdienen müssen«, sagte er.

Ein Standpunkt, den wohl auch der Leiter der Uno-Verhandlungsdelegation teilt, Finnlands ehemaliger Präsident Martti Athisaari. Denn in internationalen Kreisen herrscht spä­testens seit den März-Pogromen Konsens da­rüber, dass die unter der Formel »Standards vor Status« kursierende Kosovo-Strategie ein Fehler und die ersten Jahre unter der Uno-Übergangsadministration (Unmik) verlorene Zeit waren. Da das Misstrauen gegenüber den kosovo-albanischen Eliten in New York und Brüssel ebenso ausgeprägt ist wie das gegenüber serbischen Ansprüchen auf die Provinz, dürfte das Verhandlungsergebnis auch die Riege um Thaci, Surroi und Kosumi nicht zufrieden stellen. Eine schnelle Unabhängigkeit wird es nicht geben, sondern am ehesten Übergangslösungen, wie sie die Internationale Balkan-Kommission im Frühjahr vergange­nen Jahres vorschlug.

So sieht der Vierstufenplan der Kommis­sion eine »geteilte Souveränität« des Kosovo als letzten Schritt in einem bis Mitte des nächsten Jahrzehnts gestreckten Prozess vor. Von dem durch die Resolution 1 244 definierten Status quo (Stufe 1) soll die Entwicklung über eine »Unabhängigkeit ohne volle Souveränität« (Stu­fe 2) und eine »gelenkte Souveränität« (Stufe 3) hin zu jener »geteilten Souveränität« (Stufe 4) führen, die erst mit Aufnahme des Kosovo in die EU erreicht werden könnte – gleichzeitig mit den anderen ehemaligen jugoslawischen Republiken Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Mazedonien sowie Albanien.

Ein fernes Ziel, das bereits in den nächs­ten Monaten durch neue, von den Kosovo-Albanern wie von den Serben geschürte Konflikte aus dem Blick geraten könnte. Auch der in den Nachrufen der vergangenen Woche wieder aus­gegrabene, längst verstaubte Nom de Paix Ru­govas als »Kosovo-Gandhi« könnte so eine post­hume Wandlung erleben. Denn nicht nur in ihrer Borniertheit erinnerte seine Politik eher an Yassir Arafats letztlich erfolglosen Kampf um einen eigenen palästinensische Staat.