»Essen macht nicht gesund, Essen macht satt«

Udo Pollmer

Rinderwahnsinn, Gammelfleisch und Vogelgrippe: Immer neue Katastrophenmeldungen lassen einem den Appetit vergehen. Macht Essen an sich schon krank?

Udo Pollmer, wissenschaftlicher Leiter des Europäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften, ist Wissenschaftsjournalist und Dozent. Zuletzt veröffentlichte er das Buch »Esst endlich normal«. Das Handelsblatt nennt ihn den »bösen Buben seiner Zunft«. Er schreibt über Lebensmittelskandale, biologische Landwirtschaft, Gentechnik und gesunde Ernährung. Mit ihm sprach Sven Kienscherf.

Betrachtet man die Lebensmittelskandale der letzten Zeit, bekommt man den Eindruck, dass unsere Nahrung immer ungesünder wird. Stimmt das?

Nein, wir nehmen es nur so wahr. Früher haben die Medien Lebensmittelskandale mit dem Argument ignoriert, man dürfe das Publikum nicht mit solchen Informationen verunsichern. Nach wie vor haben wir es mit der Spitze eines Eisbergs zu tun, aber der Eisberg als solcher ist kleiner geworden. Die einstige Ignoranz ist der Angst gewichen. Wenn heute hinterm Ural ein Piepmatz an Vogelgrippe erkrankt und tot vom Baum fällt, werden in Deutschland die Apotheken geplündert. Die Angst sorgt dafür, dass wir Skandale ohne einen realen Anlass erleben.

Also war die Qualität der Lebensmittel vor 20 Jahren nicht besser?

Nein, auf keinen Fall. Vor 20 Jahren ging es auf Schlachthöfen weitaus unhygienischer zu. Da sind die Arbeiter noch von mit Kot verschmierten Klamotten in die Kühlhäuser und zwischen den Rinderhälften hindurchgelatscht. Früher hat man bei Missständen konsequent weggesehen. Nehmen Sie die BSE-Krise. Als in England immer mehr Rinder an BSE erkrankten, habe ich den Me­dien das Thema empfohlen. Die Antwort lautete: Was willst du mit deinen blöden Kühen in England? Damals war jedoch nicht absehbar, ob die Sache in einer gesundheitlichen Katastrophe enden würde oder nicht. Erst als die Zahl der kranken Rinder kontinuierlich sank, wurde das Thema in Deutsch­land aufgegriffen. Vor Jahren war Fleisch noch »ein Stück Lebenskraft«; mitt­lerweile sorgt der Genuss für Gewissensbisse. Fleisch wird zur Esssünde. Wer Sünden begeht, lädt Schuld auf sich und muss dafür früher oder später büßen. Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort, große haben Inkubationszeiten wie BSE. Schon im Mittelalter galten Seuchenzüge als göttliche Strafe. Waren die Seuchen endlich vorbei, hat man noch schnell alle diejenigen erschlagen, die durch ihr gotteslästerliches Verhalten den Zorn des Herrn über das Land gebracht hatten. Heute massakrieren wir halt die Rinderherden und nicht mehr den Nachbarn, der es wagt, ein Steak zu essen.

Nach jedem Lebensmittelskandal wird die biologische Landwirtschaft als Allheilmittel gepriesen. Ist sie eine sinnvolle Alternative zum konventionellen Anbau?

Zumindest haben die Biobauern gezeigt, dass man nicht jeden Tag mit der Giftspritze über den Acker fahren muss. Mitt­lerweile hat bei den Leitern konventioneller Betriebe ein Generationenwechsel stattgefunden. Die jüngeren haben den Blick über den Zaun gewagt und versucht, die eigene Produktion mit den Methoden des biologischen Landbaus zu optimieren. Heute sieht konventionelle Land­wirtschaft in vielen Betrieben anders aus als noch vor 20 Jahren.

Inzwischen hängt die Qualität der Lebensmittel mehr von den Fähigkeiten des Betriebsleiters ab. Nicht die Anbaumethode ist entscheidend, sondern die Fähigkeit, Böden, Pflanzen und Vieh mit Sachkunde und Fingerspitzengefühl zu managen. Natürlich haben dabei die konventionellen Landwirte die größere Auswahl: Sie dürfen auch auf die Methoden der Biobauern zurückgreifen, aber nicht umgekehrt.

Allerdings ist das teilweise eine reichlich akademische Diskussion. Denn in den Augen der Dritten Welt ist biologischer Anbau nur etwas für die verwöhnten Söhne und Töchter einer Überflussgesellschaft. Man braucht für die gleiche Erntemenge mehr Fläche, die vielerorts nicht zur Verfügung steht.

In Deutschland wird nach wie vor um die Kennzeichnungspflicht und den Einsatz von genveränderten Nahrungsmitteln gestritten. Wie bewerten Sie die Debatte?

Die Diskussion ist hochgradig emotionalisiert. Bei der Gentechnik haben viele Menschen das Gefühl, da spiele jemand Gott und manipuliere die heilige Schöpfung. Man muss aber wissen, dass das, was wir essen, mit den ursprünglichen Wildpflanzen herzlich wenig zu tun hat. Kohlarten wie Brokkoli und Kohlrabi sind alles Kunstprodukte aus Menschenhand. Niemand würde von den Ahnen unserer Nutzpflanzen satt. Zudem ziehen ständig neue Schädlinge und Krankheiten von Süd nach Nord oder von West nach Ost. Da braucht es entsprechende Resistenzeigenschaften. Je mehr Methoden wir dann zur Verfügung haben, desto eher sind wir den Herausforderungen der Zukunft gewachsen.

Und eine Methode ist die Gentechnik?

Es stellt sich die Frage nach der Alternative. In den fünfziger Jahren begann man mit der Mutationszüchtung. Die lief wie folgt: Man nahm sich einen Sack Getreide, brachte ihn in ein Atomkraftwerk und schoss mit den radioaktiven Strahlen die Gene der Körner in Stücke. Auf diese Weise hoff­te man, künstliche Gene zu erzeugen. Die zahllosen genveränderten Pflanzen hat man dann draußen ausgepflanzt. Fachleute suchten auf dem Acker die Getreidepflänzchen danach ab, ob vielleicht die eine oder andere interessante Missbildung dabei war. Die hat man bei Bedarf in die bestehenden Linien eingekreuzt. Und das essen wir heute. Praktisch alle pflanzlichen Nahrungsmittel enthalten unvermeidlich künstliche Gene aus dem Atomkraftwerk. Aufgrund der massiven Kritik an der Gentechnik kehren die Züchter jetzt zunehmend wieder zur Mutationsforschung zurück, da es dafür keinerlei Sicherheitsprüfungen oder Kritik von Verbraucherschützern gibt. Sie erlaubt außerdem weiter reichende Veränderungen des Pflanzen­genoms, als es mit Gentechnik zurzeit möglich ist. Da kann man sich auch ohne Experten ausrechnen, wo das Risiko wohl am größten ist.

Sie kritisieren seit Jahren Ernährungsberater und entsprechende Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), die auch von den Krankenkassen aufgegriffen werden. Warum liegt die DGE falsch?

Vergleichen Sie einfach mal die Empfehlungen der letzten Jahrzehnte. Da war schon so ziemlich alles einmal ein Gesundheitsbote und ein andermal der sichere Weg ins Siechtum. Böse Zungen spotten angesichts des Tatbestandes, dass alle vier Jahre neue Empfehlungen ersonnen werden, über eine rasante Evolution des menschlichen Verdauungstrakts, der sich stets an die Empfehlungen der Fachleute anpasse. Nehmen Sie das Mustervitamin C: Vor der Wende brauchte ein Wessi 75 Milligramm am Tag; ein Ossi musste sich mit 45 Milligramm bescheiden. Nach der Wende galten dann satte 100 Milligramm als das Non plus ultra. Für den EU-Bürger reichen hingegen 30 Milligramm, während der Weltbürger 45 Milligramm braucht. Tatsächlich reichen fünf Milligramm.

Wie sieht eine gesunde Ernährung aus?

Die Idee einer gesunden Ernährung für alle ist ebenso abstrus wie die Idee einer Schuhgröße für alle. Menschen sind unterschiedlich. Jeder Stoffwechsel ist anders. Deshalb kann es keine Ernährungsempfehlung geben, die allen gerecht wird. Denken Sie daran: Essen macht nicht schön, nicht schlank und auch nicht gesund. Essen macht satt.