Aufklärung und Zucht und Ordnung

Woher kommt die Leidenschaftlichkeit der deutschen Debatte um »Integration«? Und was sagt sie den Deutschen, was den Anderen? von deniz yücel

Wie kann man aus Ausländern ›gute Deutsche‹ machen?« hieß es jüngst bei Sabine Christiansen. Für gewöhnlich werden in dem Ersatzparlament, das vor einem Millionenpublikum die Schicksalsfragen der Nation behandelt, Fragen wie »Woher kommen neue Jobs?« gestellt, und schon die Art der Frage bedeutet einem jedem, dass die Jobs rätselhaften Gesetzen folgend kommen und gehen, dass es jedenfalls nichts zu machen gibt, außer vielleicht die »Rahmenbedingungen« zu ändern und hernach zu hoffen und zu beten, die »Konjunktur« möge »anspringen«. Gottlob, dass die Kanaken ein Thema hergeben, bei dem man sich nicht dem Kismet ergeben muss, sondern die Ärmel hochkrempeln und etwas machen kann, am besten eben »Ausländer zu guten Deutschen«.

Wenn man immer wieder mal darüber redet, wie man die Kanaken Mores lehrt, lässt sich eher darüber hinwegsehen, dass etwa die Beteiligung an den Wahlen stetig sinkt und bei den letzten Bundestagswahlen so niedrig war wie nie zuvor, dass es in Deutschland um die Gleichstellung von Frauen schlechter bestellt ist als in den meisten Staaten Westeuropas, dass ein nennenswerter Teil der Bevölkerung längst als white trash abgeschrieben ist, von dem niemand allen Ernstes behauptet, er würde jemals wieder in Lohn und Brot kommen, dass man, um mit diesem dämlichen Ausdruck zu reden, im Grunewald eine »Parallelgesellschaft« vorfindet, die die Unterschiede zwischen Kreuzberg und Marzahn als nichtig erscheinen lässt.

Es gibt kein Thema, das nicht als kulturelles Problem buchstabiert würde, die Pisa-Studie beispielsweise, deren Ergebnisse eben nicht lauten, kanakische Schüler seien blöder als deutsche, sondern dass in keinem Industriestaat die Ausbildung dermaßen von der Klassenzugehörigkeit der Eltern abhängig ist wie hierzulande.

Erst an zweiter Stelle, als diskursives Abfallprodukt gewissermaßen, kommt das Ideologische. »Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland; sie strebt nicht an, die Anzahl der deutschen Staatsangehörigen gezielt durch Einbürgerung zu vermehren«, hieß es in den Einbürgerungsrichtlinien der siebziger Jahre. Eine Einbürgerung komme nur in Betracht, »wenn ein öffentliches Interesse an der Einbürgerung« bestehe und erfordere die »freiwillige und dauernde Hinwendung zu Deutschland«, die es anhand der »nach dem bisherigen Grundverhalten zu beurteilenden grundsätzlichen Einstellung zum deutschen Kulturkreis« festzustellen galt.

30 Jahre, etliche Debatten und zwei grundsätzliche Novellierungen des Staatsbürgerschaftsrechts später hat man sich davon nicht weit entfernt, selbst wenn niemand mehr leugnet, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, und ungeachtet dessen, dass in den neunziger Jahren die Einbürgerung unter bestimmten Voraussetzungen relativ einfach zu haben war.

Eine Einbürgerung zum »Nulltarif« dürfe es nicht geben, wissen sich von Edmund Stoiber bis Necla Kelek alle einig, während Udo di Fabio, Richter am Bundesverfassungsgericht und Enkel italienischer Einwanderer, zum besten gibt, dass Deutscher zu sein bedeute, Teil einer »Schicksalsgemeinschaft« zu sein. Das wiederum müsse auch die Bereitschaft einschließen, »sein Leben im Kampf für die Gemeinschaft zu opfern«. Wer den Pass will, muss zum Fronteinsatz nach Afghanistan – wäre das nicht ein verlässlicherer Einbürgerungstest als ein Fragebogen, bei dem jeder schummeln kann? Mit der Staatsbürgerschaft als Recht darauf, Rechte zu haben, hat das wenig zu tun, mit der seligen »Volksgemeinschaft« umso mehr.

Jeder Staat könne nach Maßgaben der Politik und der Moral entscheiden, wen er einwandern lasse, schreibt der kommunitaristische US-amerikanische Philosoph Michael Walzer. Die Kriterien für Einwanderung und Einbürgerung jedoch müssten zusammenfallen, denn die »Bestimmung über Fremde und Gäste durch eine exklusive Gruppe von Bürgern« sei keine »gemeinschaftliche Freiheit, sondern Unterdrückung«. Welche Kriterien bei der Anwerbung der »Gastarbeiter« zählten, dürfte bekannt sein: allein die Qualität der Ware Arbeitskraft zählte. So leidig es ist, so nötig ist es angesichts einer Debatte, die so tut, als befände man sich am Beginn der Einwanderung, an diese Dinge zu erinnern.

Nicht der Beschluss einer Berliner Realschule, dass türkische und pakistanische Schüler miteinander Deutsch reden sollen (was’n sonst?), ist deshalb unappetitlich, sondern die Begeisterung, mit der Politiker und Journalisten diese Idee aufgenommen haben – und en passant so tun, als garantiere ein Realschulabschluss etwas anderes als Billigjobs und Stütze.

Der herrische Tonfall (»Man spricht gefälligst Deutsch!«) und die gesamte Logik der Debatte verlangen immer mehr. Schon vor Jahren beklagte Rita Süssmuth die Existenz von »rein ethnisch ausgerichteten Diskotheken und Sportvereinen«, Annette Schavan wollte die Deutschpflicht für Moscheen usw. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand fordert, die Hürriyet dürfe hierzulande nur noch auf Deutsch erscheinen. Und vielleicht findet sich auch jemand, der eine Änderung des Namensrechts vorschlägt, weil türkische Eltern ihre Neugeborenen immer noch Nuray und Kerem nennen. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, und was heute noch Polemik ist, kann morgen schon Wirklichkeit werden, Hauptsache, man stellt seine Forderungen – natürlich – im Namen der »Integration«.

Dabei kommt es nicht darauf an, welche dieser Maßnahmen in die Tat umgesetzt werden, das permanente Reden genügt, um die ideologische Funktion zu erfüllen. Das aber hat Folgen. Den Kanaken wird immer wieder vorgeführt, dass bei ihnen etwas nicht in Ordnung ist. Wenn doch, sind sie es, die das Gegenteil beweisen müssen.

Diese Behandlung führt dazu, dass sich viele Deutsch-Türken, nicht zuletzt gut ausgebildete, einem unentwegten Verhör ausgesetzt sehen. »Stets wird ein neues deutsches Ich-Ideal errichtet, zu dem die Ausländer aufschließen sollen, und das sie am Ende eben nie erreichen können«, schrieb Mark Terkessidis so schön vor einigen Jahren in der Jungle World (es war nach der Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts, aber vor den Anschlägen vom 11. September).

Nicht wenige beschließen deshalb, sich nach einem anderem Identitätsangebot umzusehen, und werden beim politischen Islam fündig (was nicht heißt, dieser sei bloß eine Folge von Ausgrenzung). Häufiger dürfte eine andere Reaktion sein: die Abwehr. Dies führt dazu, dass beispielsweise junge türkische Frauen, die es nicht nötig haben, sich von irgendwem als »emanzipiert« loben zu lassen, nichts von dem wissen wollen, was in der türkischen Community zweifelsohne mehr als nur Einzelfälle sind: die Knechtung von Frauen und Mädchen.

Und es gibt ein paar andere, sie heißen Necla Kelek oder Seyran Ates, die aus ihren eigenen Erfahrungen, nicht zuletzt auch der Erfahrung, in linken und grünalternativen Kreisen immerzu nur Abwiegelung und Beschwichtigung begegnet zu sein, andere Schlussfolgerungen ziehen. Zwar unterscheiden sich ihre Aussagen nicht von denen anderer Gäste von Christiansen, die ebenfalls den politischen Islam und unzureichende Deutschkurse und Frauenunterdrückung und was sonst noch anfällt, zusammenrühren und wieder so trennen, dass die Liste der Vergehen von »A« wie Antisemitismus bis »Z« wie Zwangsehe reicht, und die Liste der Forderungen von »A« wie Aufklärung bis »Z« wie Zucht und Ordnung.

Aber sie dürfen sie reklamieren, authentisch zu sein und können zumindest für den Moment sie zum deutschen Ich-Ideal aufschließen, indem sie es überbieten: »Ich bin stolz, Deutsche zu sein, und ich kenne einige Inländer, die mich darum beneiden, dass ich das geradeheraus sagen kann«, sagt Seyran Ates. Und wer auf sowas stolz ist, kennt bekanntlich keine Klassen.