»Es geht nicht um Tabuisierung«

Ein Gespräch mit der Soziologin yasemin karakasoglu

Yasemin Karakasoglu ist Professorin für Interkulturelle Bildung an der Universität Bremen. Sie war als Gutachterin für das Bundesverfassungsgericht im so genannten Kopftuchurteil tätig. Gemeinsam mit dem Pädagogen und Autor Mark Terkessidis verfasste sie einen Appell, in dem sie für mehr Wissenschaftlichkeit in der Migrationsdebatte plädiert und die türkischstämmige Soziologin Necla Kelek hart attackiert. 60 Wissenschaftler unterzeichneten den Aufruf, um den es mittlerweile eine heftige Kontroverse gibt.

Sie behaupten in der Zeit, dass sich die deutsche Integrationspolitik auf Vorur­teile stütze und bezeichnen Necla Keleks Buch über Zwangsheiraten in Deutschland als Boulevardliteratur. Warum diese Form der Kritik, warum diese Kampagne?

Wir haben die Form eines Aufrufs gewählt, weil wir seit geraumer Zeit beobachten, dass die Debatte um Integration zunehmend unsachlicher geführt wird. Mit unserer Kritik haben wir leider bisher keine Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gefunden. Die Unterschriftenliste will deutlich machen, dass es sich nicht um eine Einzelmeinung handelt. Innerhalb der deutschen Migrationsforschung gibt es zahlreiche Wissenschaftler, die diese Auffassung teilen.

Sie greifen vor allem Necla Kelek an. Warum gerade sie?

Wir greifen sie nicht an, sondern kritisieren ihre unsachliche Darstellung.Wir führen ihr Buch lediglich als Beispiel für eine bestimmte Art von Literatur an, die neuerdings von Teilen der Politik und der Medien herangezogen wird, um sich ein Bild vom Stand der Integration von Migranten in Deutschland zu machen. Insbesondere die Politik nimmt diese subjektiven Berichte zur Grundlage für rechtliche Maßnahmen. Uns stört, dass dabei nicht zur Kenntnis genommen wird, dass es sich bei diesen Büchern nicht um wissenschaftliche Literatur handelt, sondern um die Darstellung von Ereignissen. Fakt ist, dass sie tatsächlich passieren – das streitet keiner von uns ab – und dass sie auch zu verfolgen sind. Eine Voraussetzung dafür muss aber sein, dass nachvollziehbar ist, woher die Daten kommen, wie ausgewertet wurden und wie repräsentativ sie sind.

Nun ist Necla Kelek auch nicht in ihrer Eigenschaft als Bestsellerautorin für eine politische Beratung konsultiert worden, sondern als promovierte Soziologin, die sich mit Familienstrukuren und Zwangsheirat beschäftigt hat.

Ich nehme vor allem wahr, dass sie als Expertin zum Thema Islam konsultiert wird und selbst auch so auftritt. Wenn man sieht, dass sie in ihren Publikationen vor allem den Islam für die fehlende Integration verantwortlich macht, muss man sagen, dass das sachlich schlicht falsch ist.

In Ihrem Aufruf gehen Sie noch einen Schritt weiter. Sie kritisieren eine im Berliner Bezirk Neukölln initiierte Aufklärungskampagne gegen Zwangsheirat dafür, dass das Projekt auf seiner Internetseite lediglich auf die »derzeit populären Sachbücher über den Islam« von Necla Kelek, Seyran Ates und Ayaan Hirsi hinweist. Welche Bücher über die Zwangs­ehe in nicht-islamischen Communities vermissen Sie auf dieser Liste?

Bereits im Jahr 2001 hat Unicef auf das weltweite Problem der Zwangsheirat aufmerksam gemacht. Darüber hinaus gibt es einen Bericht des Britischen Innenministeriums von 2005 über Zwangsheirat, in dem ebenfalls auf die kulturenübergreifende Praxis der Zwangsverheiratung hingewiesen wird. Darüber hinaus kenne ich den Forschungsstand über Zwangsehen in anderen Kulturen nicht.

Was ist der Grund dafür, dass in jüngster Zeit so viele kritische Bücher von Frauen über ihre Erfahrungen mit Gewalt im Kontext islamischer Gemeinschaften erschienen sind?

Die Tatsache, dass die gängige Sachliteratur über Zwangsheirat sich ausschließlich mit islamischen Gesellschaften beschäftigt, hat vor allem damit zu tun, dass sich da ein eigener Markt in Deutschland entwickelt hat, der natürlich durch entsprechende Berichte immer wieder bedient wird. Das ist auch ein Grund dafür, dass wir Erfahrungsberichte aus anderen kulturellen Zusammenhängen nicht vorliegen haben.

Ich glaube auch nicht, dass diese Art von Literatur den Projekten vor Ort hilft. Mi­grantische Organisationen und interkulturelle Projekte bestätigen mir, dass der Blick auf türkische Frauen und Mädchen, der in diesen Büchern vermittelt wird, den Frauen oftmals sehr unangenehm ist und sie sich stigmatisiert fühlen.

Das Phänomen der »Importbräute«, wie Necla Kelek sie nennt, ist auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft anzutreffen. Frauen werden aus Osteuropa oder Asien zwecks Eheschließung vermittelt. Was spricht dagegen, die von Kelek angestoßene Debatte über Zwangsehen in der türkischen Community zu öffnen und über die Selbstbestimmung von Mädchen und Frauen zu reden, anstatt sie zu tabuisieren?

Es geht doch nicht um Tabuisierung. Es geht vielmehr darum, es als gesamtgesellschaftliches Thema zu behandeln und nicht auf Erscheinungsformen in der Migrantengesellschaft zu reduzieren. Diese Argumentation mag in unserem Brief nicht ausgeführt sein, aber wir wehren uns dagegen, dass Zwangsheiraten als symptomatisch für die Integrationsunfähigkeit der muslimischen Kultur in die deutsche Gesellschaft dargestellt werden; mehr noch dass auf Grundlage solcher Texte dann Expertisen für die Abfassung eines so genannten Muslimtests erstellt werden.

Sie unterscheiden zwischen Zwangsheiraten und arrangierten Ehen und fordern, die deutsche Gesellschaft solle lernen, traditionelle Formen der Eheschließung zu akzeptieren. Wo hört das Arrangement auf, wo beginnt der Zwang?

Da gibt es sicher fließende Übergänge. Grundsätzlich gilt jedoch: Wenn beide Partner einer Eheschließung zustimmen, unabhängig davon, ob die Partner einander von den Eltern oder anderen Verwandten vorgestellt wurden, handelt es sich um eine traditionelle Form der Eheschließung. Das ist ein Prozess der Annäherung, der sich über Monate oder Jahre von dem »sich das Wort Geben« über die Verlobung bis zur Eheschließung hinziehen kann. Davon absolut zu unterscheiden ist die Ausübung von Zwang oder Druck auf jemanden, der sagt, nein, ich möchte nicht auf diese Weise heiraten; ich möchte diesen Partner nicht heiraten; ich möchte überhaupt nicht heiraten.

Seyran Ates und Necla Kelek wird es als Verdienst angerechnet, dass Zwangs­ehen in Deutsch­land überhaupt debattiert werden. Hat die Migrationsforschung Probleme familiärer Gewaltbeziehungen vernachlässigt?

Diese Themen sind bisher tatsächlich nicht auf breiter Basis wissenschaftlich fundiert erarbeitet worden. Es gibt unter anderem eine Untersuchung von Ahmet Toprak, die gleichzeitig mit Keleks Dissertation erschienen ist und nach den Einstellungen junger türkischstämmiger Männer zu Ehre, Ehrenmord, Zwangsheirat fragt, und vereinzelte Diplomarbeiten. Insgesamt würde ich mir auch wünschen, dass es weitere Untersuchungen gäbe, die uns zu diesem Thema mehr Wissen vermitteln.

Sie deuten den Erfolg von Keleks »Fremde Braut« als Indiz für einen schärferen Diskurs. Gibt es insgesamt einen Paradigmenwechsel in der europäischen Integrationspolitik?

Ich habe den Eindruck, dass der Fokus sich stark auf die »Bringschuld« – wie man das jetzt nennt – der Migranten richtet und nicht genügend berücksichtigt wird, inwieweit sie von ihren bildungs- und sozio-ökonomischen Hintergründen in der Lage sind, die von ihnen erwarteten Leistungen zu erbringen. Dazu passt die Durchsetzung des Begriffs »Parallelgesellschaften«. Unterschlagen wird dabei, dass diese Mechanismen der Abschottung keineswegs repräsentativ sind. Es handelt sich um Minderheiten innerhalb der Migrationsgruppen. Die Mehrheit verfolgt ganz andere Ideale der Integration.

interview: heike runge