Wer integriert wen?

Universalismus, Multikulti, Leitkultur – In Sachen Integration unterscheiden sich die politischen Strategien und ihre ideologische Grundlagen in Europa sehr, die Ergebnisse hingegen kaum. von udo wolter

Wenn in Deutschland von Integration die Rede ist, kommt meistens Leitkultur dabei heraus. Ist also die Konstruktion einer deutschen »Kulturnation«, die sich einst in Abgrenzung zum Universalismus der französischen Aufklärung und dem angelsächsischen Pragmatismus bildete, nach wie vor lebendig? Viele Linke würden diese Frage sicher bejahen. Schließlich galt noch bis vor wenigen Jahren das an der Abstammung orientierte Staatsbürgerschaftsrecht, während auch der grün-alternative Gegenentwurf, nämlich der Multikulturalismus mit seinem fatalen Hang zur Verklärung »anderer Kulturen«, gar nicht so weit vom traditionellen völkischen Denken entfernt war.

Inzwischen bemüht man sich jedoch selbst in der CDU, nicht immerzu von einer »christlich-abendländischen Kultur« zu reden. Stattdessen will man zumindest den Anschein erwecken, dass der Begriff »Leitkultur« ein republikanischer sei und nichts anderes meine als die Anerkennung der »freiheitlich-demokratischen Grundwerte«. Und so abgrenzend die Identitätskonstruktion einer »Leitkultur« sein mag, wird sie zumeist europäisch und nicht deutschtümelnd definiert.

Auf das Grundgesetz berufen sich aber auch all jene fundamentalistischen Kräfte, denen an einer Islamisierung der Communitys gelegen ist. Wie in ganz Europa rufen Muslimverbände angesichts der aktuellen gewalttätigen Proteste in islamischen Ländern zur »Mäßigung« auf und bieten sich als Dialogpartner an, während sie sich zugleich gegen die »Verletzung religiöser Gefühle und die Verunglimpfung von Religion« wenden, wie es in einer von 16 islamischen und türkisch-deutschen Verbänden unterzeichneten Erklärung heißt. Damit sagen sie nichts anderes als konservative Politiker und viele Stimmen in der europäischen Öffentlichkeit, die eine »Verteidigung« der Pressefreiheit durch deren »Selbstbeschränkung« wollen. Wer integriert hier eigentlich wen?

Auf der europäischen Ebene äußert sich die Vereinheitlichung der Migrationspolitik vornehmlich als Abschottung. Bestimmte Beschlüsse der EU, etwa die Einführung biometrischer Pässe, die Verstärkung der Grenzkontrollen und der Informationsaustausch zwischen den Behörden, werden rasch in die Tat umgesetzt. Die gleichfalls beschlossenen Richtlinien für eine gemeinsame Integrationspolitik oder Maßnahmen gegen Diskriminierung hingegen werden, wenn überhaupt, nur langsam verwirklicht. In diesen Fragen beharren die Nationalstaaten, allen voran Deutschland, auf eigenen Ermessensspielräumen.

Als Gegenstück zu den deutschen Vorstellungen von einer »Kulturnation« gilt das universalistische französische Modell der staatsbürgerlicher Gleichheit und des Laizismus. Dieses Modell sei gescheitert, hört man spätestens seit den Krawallen in den Banlieues immer wieder, auch wenn diese Feststellung bisweilen wie eine Replik auf jene wirkt, die nach dem Mord an Theo van Gogh in den Niederlanden und den Anschlägen vom 7. Juli 2005 in Großbritannien ein Scheitern des dort gepflegten Multikulturalismus konstatierten.

Aber werden die Ausgrenzung und die Perspektivlosigkeit, unter denen die Menschen in den Banlieues leiden, dadurch verschärft, dass der französische Staat die kulturellen Unterschiede ignoriert und die Staatsbürgerschaft großzügiger verleiht? Das französische Vorgehen kaschiere die in der Realität fehlende Anerkennung der Migranten und verschlimmere ihre kulturelle Benachteiligung, heißt es oft. Dafür wird meist auf das Kopftuchverbot an staatlichen Schulen verwiesen, von dem es heißt, es beraube gläubige Muslimas ihrer Bildungs- und Berufsmöglichkeiten. Dabei wird übersehen, dass die meisten praktizierenden französischen Muslime kein Problem mit dieser Regelung haben und es in Frankreich eher männliche migrantische Jugendliche sind, die unterdurchschnittliche schulische Leistungen erbringen.

Die Benachteiligung der Bewohner der Banlieues hat viel mehr mit Klassenverhältnissen zu tun als mit kultureller Diskriminierung, selbst wenn es sich bei den meisten von ihnen um Menschen handelt, die aus islamischen Ländern stammen. Die politisch Verantwortlichen, insbesondere Innenminister Nicolas Sarkozy, sahen lange Zeit in den islamischen Organisationen einen billigen Ersatz für den Sozialstaat. Doch auch mit diesem reaktionären Kommunitarismus gelang es nicht, die Revolte zu befrieden; die islamischen Vereine konnten selbst mit Fatwas nicht viel gegen die Krawalle ausrichten.

Im Zusammenhang mit den Revolten zeigte sich auch, wie schwer sich das offizielle Frankreich mit der Bewertung seiner kolonialen Vergangenheit tut. Es war kaum zufällig, dass direkt nach den Unruhen eine Debatte um jenes unsägliche Gesetz entbrannte, das eine positive Bewertung der französischen Kolonialpolitik im Unterricht verlangt.

Der koloniale Hintergrund spielt auch bei der britischen Integrationspolitik eine wichtige Rolle. Die Traditionen des Empire und der konstitutionellen Monarchie haben es unterschiedlichen ethnisch oder religiös definierten Gruppen ermöglicht, ihre Anerkennung als loyale Untertanen ihrer Majestät zu reklamieren, ohne ihre Identität preiszugeben. Dies hat auch die Integrationspolitik im postkolonialen Großbritannien beeinflusst. Nach den Revolten der achtziger Jahre, die durch den Rassismus der Polizei und der »weißen« Bevölkerung verursacht wurden, entstand eine Art institutionalisierter Antirassismus, der teilweise eine Art »positiver Diskriminierung« bedeutet.

Inzwischen kritisieren auch manche Linke und Antirassisten das multikulturalistische britische Integrationsmodell, weil es zu einer Segregation ethnischer und religiöser Communitys geführt und die Verbreitung des radikalen Islamismus erleichtert habe. Zu den bekanntesten Kritiker gehört der karibischstämmige Trevor Phillips, der die »Kommission für Rassengleichheit« leitet. Lange vor den Anschlägen in London sprach er davon, dass innerhalb der verschiedenen Communitys die Bereitschaft zur Integration sinke. Er befürwortet auch die Pflege der englischen Sprache und die kulturelle Orientierung an Shakespeare und Dickens. Solche dissidente migrantische Stimmen, von denen man annehmen darf, dass sie etwas anderes im Sinn haben als rechte Politiker und Autoren, die nach den Anschlägen mehr »Britishness« forderten, sind an der britischen Debatte schon seit langem beteiligt, während hierzulande erst neuerdings von Seyran Ates oder Necla Kelek die Fronten der Debatte durcheinander gewirbelt wurden.

Wie sehr sich die schlechte multikulturalis­tische Tradition festgesetzt hat, zeigte sich dieser Tage an den Reaktionen auf den Karikaturenstreit. Zunächst übte sich die Presse in einer Zurückhaltung, die an Selbstverleugnung grenzte. Das änderte sich erst, nachdem radikale Jihadisten mit Parolen wie »Britain will pay – 7/7 is on its way« in London demons­triert hatten, ohne dass die Polizei eingeschritten wäre. Dafür verurteilten die großen britischen Muslimverbände diese Parolen und forderten rechtliche Schritten gegen die Islamhooligans. Am Wochenende demonstrierten sie freilich selbst gegen die Karikaturen – unterstützt vom Londoner Bürgermeister Ken Livingstone und von einigen Friedensgruppen.

Ähnliche Widersprüche brachte der Multikulturalismus in den Niederlanden hervor. Auch wenn man dort gerne von »Interkulturalismus« spricht, um den Anspruch auf Integration zu betonen, ist die enorme Segregation unübersehbar – nicht nur in den ghettoähnlichen Vierteln, die es in allen größeren Städten des Landes gibt.

Einen wichtigen Beitrag zu dieser gesellschaftlichen Entmischung leistete das »Säulenmodell«, das auf die Geschichte der Säkularisierung in den Niederlanden zurückgeht und es religiös oder ethnokulturell definierten Communitys gestattet, eigene Institutionen zu bilden. Auf dieser Grundlage wurden islamische Schulen und konservative Migrantenor­ganisationen staatlich gefördert. Die viel beschworene niederländische Toleranz erwies sich als gleichgültiges Nebeneinanderleben und als versteckte Diskriminierung, während die Selbstisolierung vor allem in den muslimischen Communitys den Fundamentalismus förderte. Mit aller Brutalität offenbarte der Mord an Theo van Gogh die Konsequenzen.

Zweifellos hat in den vergangenen Jahren in den Niederlanden ein Rechtsruck stattgefunden, der dem Land eines der restriktivsten Asyl- und Einwanderungsgesetze Europas beschert hat. Dass auf öffentlichen Plätzen in den Niederlanden künftig nur noch Holländisch erlaubt sein soll, wie hierzulande vermeldet wurde, hat sich jedoch als alarmistisches Gerücht erwiesen.

Auch in Dänemark ist die vermeintliche Toleranz längst einer ausländerfeindlichen Stimmung gewichen. Dafür steht vor allem die von der rechts­populistischen Dänischen Volkspartei tolerierte Mitte-Rechts-Regierung. Wer die Staatsbürgerschaft erwerben will, muss nicht nur einen guten Leumund und seine finanzielle Absicherung nachweisen und eine Loyalitätserklärung abgeben, sondern sich auch einer Sprachprüfung unterziehen, deren Anforderungen so hoch sind, dass Schätzungen zufolge 80 Prozent der Zuwanderer von vornherein keine Chance haben, sie zu bestehen. Das Einbürgerungsalter ist auf absurde 24 Jahre erhöht worden. Führende Politiker der Volkspartei hetzen mit rassistischen Schmähungen wie »Krebsgeschwür« gegen Muslime. Dass die Karikaturenaktion von Jyllands-Posten in dieses Klima fiel, wurde wiederum von einigen Imamen dazu genutzt, um die Stimmung in islamischen Ländern aufzustacheln.

So unterschiedlich die ideologischen Grundlagen der Integrationspolitik in Europa auch sein mögen, die Ergebnisse sind überall doch ähnlich: Abschottung gegen Flüchtlinge, Filterung der Zuwanderung nach ökonomischen Verwertungskriterien oder Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt finden sich allerorten. Und selbst die Fehler, welche zur Islamisierung der entsprechenden migrantischen Communitys beigetragen haben, indem sie die Deutungshoheit von reaktionären Imamen und Islamisten beförderten, ähneln sich trotz der unterschiedlichen Politik oft auf frappierende Weise.