Gnadenlose Projektionen

Marinus Schöberl und Ilan Halimi von anton landgraf

Sie zwangen das Opfer auf die Knie, anschließend musste es seinen Kopf auf eine Beton­kante legen. Dann traten seine Mörder ihm mit voller Wucht mit dem Stiefel ins Genick. Zuvor war der 16jährige Marinus Schöberl in einem Schweinestall gefoltert worden: Er wurde geschlagen, mit Zigaretten verbrannt. Stundenlang. Nach dem tödlichen Tritt verscharrten sie die Leiche in einer Jauchegrube.

Die bestialische Tat, die sich vor dreieinhalb Jahren in einem kleinen Ort in Brandenburg ereignete, erinnert an die brutale Misshandlung und Ermordung des 23jährigen Ilan Halimi in einem Pariser Vorort. Und auch die Motive ähneln sich. Als nach Monaten und eher aus Zufall die Mörder entdeckt wurden, gaben sie lapidar zu Protokoll, Marinus umgebracht zu haben, weil er angeblich »wie ein Jude« aussah. Mehr hatten sie nicht zu sagen.

Die unglaubliche Brutalität von solchen Taten lassen Politiker und Pädagogen, Feuilletonisten und linke Akademiker über die Ursachen rätseln. Von hoher Arbeitslosigkeit ist dann oft die Rede, von der Perspektivlosigkeit in einer Gegend, die voll ist von Menschen, die keiner braucht, die keiner will und für die sich niemand interessiert, es sei denn, sie begehen gerade mal einen Mord. Aber kaum jemand stellt die Frage, wieso ein Handyverkäufer aus den Banlieues und nicht ein Repräsentant des Pariser Establishments aus dem XVI. Arrondissement der Gang zum Opfer fiel.

Die Ausgeschlossenen, die keine Chance haben, aber dafür jede Menge Hass, verfügen über die Motive, die zwar keiner verstehen mag, die aber für sie durchaus Sinn ergeben. Die Verdammten der Vorstädte und der verödeten Provinz sehnen sich nach Macht und Status in einer Welt, die jeden Tag aufs Neue zeigt, dass diese Wünsche für sie unerreichbar sind. In dem Maße, wie die ökonomische und die gesellschaftliche Entwicklung immer weiter auseinanderdriften, steigt das Verlangen, Rache für das trostlose Dasein zu nehmen. Und wenn dabei noch etwas abfällt, umso besser.

Doch Armut und Ausgrenzung erzeugen ­keine emanzipatorischen Subjekte, sondern dumpfe Affekte. Je einfacher und schneller der Wunsch nach Rache, nach Überlegenheit und Macht befriedigt werden kann, desto besser. Die Ursachen ihrer Misere sind für sie abstrakt und anonym, ihre Projektionen konkret und gnadenlos. Juden repräsentieren in diesem Wahnsystem eine unerreichbare Macht, die im umgekehrten Verhältnis zur überflüssigen Existenz der Täter zu stehen scheint. Die Täter hatten doch allen Ernstes darauf spekuliert, mit der Entführung und Erpressung Geld von der »jüdischen Community« zu erhalten. Und die der gleichen Gesellschaftsschicht entstammenden Opfer bieten einen unschätzbaren Vorteil: Im Gegensatz zu dem undurchschaubaren System der Herrschaft und den Zentren der Macht sind sie real, greifbar – und als konkrete Personen meist schutzlos.

Die Projektion ermöglicht dem gedemütigten Selbstbewusstsein Genugtuung und entlädt sich in einer konformistischen Rebellion. Sie rächen sich an einem Opfer, das sie zum Symbol für die verhassten Verhältnisse erkoren haben, ohne sich mit den tatsächlichen Mächtigen anzulegen.

Folter und Mord, wie in den Fällen von Ilan und Marinus, dienen keinem anderen Zweck als dem, hemmungslos Hass auszuleben. Die »Gang der Barbaren«, die den Mord an Ilan Halimi verübte, zeigt mit ihrem Namen, welche Perspektiven blühen.