Rückt den Schurken raus!

Die EU stellt Serbien vor die Alternative, den General Ratko Mladic auszuliefern oder politisch isoliert zu werden. von boris kanzleiter, belgrad

Es war vermutlich das erste und letzte Mal, dass die Mitarbeiter des lokalen Fernsehsenders in der verschlafenen serbischen Kleinstadt Sabac der Weltpresse die Schlagzeilen diktierten. Sie waren es, die am Dienstag vergangener Woche zuerst die Nachricht von der angeblichen Verhaftung des ehemaligen Armeechefs der bosnischen Serben, Ratko Mladic, verbreiteten. Es dauerte nicht lange, bis internationale Nachrichtenagenturen Eilmeldungen verschickten. Am Nachmittag war der »Schlächter vom Balkan« (Spiegel Online) bereits weltweit die wichtigste Meldung.

Die erfundene Nachricht aus Sabac war zwar eine klassische Ente. Der erstaunliche Erfolg der Falschmeldung zeigt aber, dass sie ungemein glaubwürdig klang. Tatsächlich deuten alle Zeichen darauf hin, dass Mladics Tage in Freiheit gezählt sind. Noch niemals seit dem Abtauchen des Generals, der am Ende des Bosnien-Kriegs im Jahr 1995 vom Uno-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag angeklagt wurde, standen die serbischen Regierungsstellen in dieser Frage unter einem höheren Druck als heute. Der EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn erklärt unmissverständlich, dass Serbien der Abbruch der Verhandlungen über ein Assoziationsabkommen mit der Europäischen Union drohe, falls Mladic nicht festgesetzt werde. Damit wäre der proeuropäische Kurs der Nachfolger des im Oktober 2000 gestürzten Staatspräsidenten Slobodan Milosevic vorerst gescheitert. Premierminister Vojislav Kostunicas ohnehin wacklige Koalitionsregierung stände möglicherweise vor einem Kollaps.

Über die Motive der EU, Serbien ausgerechnet in diesen Tagen ein ernstes Ultimatum zu stellen, wird heftig spekuliert. Eine mögliche Erklärung ist, dass die Chefanklägerin des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag, Carla del Ponte, unter erheblichem Zeitdruck steht. Unnachgiebig behauptet Del Ponte seit langem, Mladic befinde sich unter Protektion der serbisch-montenegrinischen Streitkräfte. Soll das kostspielige und symbolträchtige Haager Tribunal aus der Perspektive der Anklagebehörde nicht zu einer Farce werden, müssen Mladic und mit ihm der ebenfalls seit zehn Jahren untergetauchte, frühere bosnisch-serbische Regierungschef Radovan Karadzic bald vor Gericht stehen. Sie sind die beiden hauptangeklagten bosnischen Serben. Sie werden von del Ponte, neben dem ehemaligen Präsidenten in Belgrad, Slobodan Milosevic, für die schwersten Kriegsverbrechen im Jugoslawien-Krieg verantwortlich gemacht: den von der Anklagebehörde behaupteten »Genozid« an bosnischen Muslimen.

Del Pontes Begehren dürfte aber nicht der ein­zige und nicht einmal der Hauptgrund für den gegenwärtigen Druck der EU auf Serbien sein. Viel entscheidender ist der schwelende Kosovo-Konflikt. Im Vorfeld der Statusverhandlungen um das Kosovo, die vergangene Woche in Wien begannen, haben mit Ausnahme von Russland alle europäischen Staaten, die in der internationalen Balkan-Kontaktgruppe versammelt sind, und die US-Regierung einen klaren Konfrontationskurs gegenüber Serbien eingeschlagen. Während die relevanten politischen Kräfte in Serbien eine Abspaltung der seit der Nato-Bombardierung im Jahr 1999 unter UN-Verwaltung stehenden Provinz kategorisch ausschließen, machten westliche Diplomaten wie der UN-Verhandlungsführer Marti Ahtisaari deutlich, dass das Kosovo auch ohne Serbiens Zustimmung vor der Proklamation der Unabhängigkeit steht. Der Fall Ratko Mladic gerät dabei zum zusätzlichen Druckmittel auf Belgrad.

Im serbischen Parlament wird nun der Vorschlag des Oppositionsführers von der Serbischen Radikalen Partei (SRS), Tomislav Nikolic, diskutiert. Kosovo solle im Falle einer erzwungenen Unabhängigkeit zum »besetzten Territorium« erklärt werden, das »mit allen Mitteln« zu verteidigen sei.

Die serbische Bevölkerung reagiert bisher überraschend gelassen auf die Zuspitzung. Weder lokale Medien und Experten bezweifeln, dass sich Mladic tatsächlich in Serbien aufhält, noch regt sich nennenswerter Protest gegen eine mögliche Verhaftung des Generals. An einer Kundgebung der nationalistischen SRS beteiligten sich am Freitag in Belgrad lediglich rund 10 000 Sympathisanten, die sich nach einer kurzen Demonstration schnell wieder zerstreuten. Der Grund für das zögerliche Vorgehen bei der seit Jahren verschleppten Festnahme Mladics dürfte denn auch nicht in erster Linie die Angst vor einer möglichen gewaltsamen Rebellion militanter nationalistischer Gruppen oder sogar einem Militärputsch sein, sondern eher die politische Überzeugung des nationalkonservativen Premierministers Kostunica.

Denn anders als in der internationalen Öffentlichkeit gelten die Repräsentanten der bosnischen Serben, Ratko Mladic und Radovan Karadzic, in Serbien nicht als Kriegsverbrecher, sondern als Verteidiger der Einheit des serbischen Volks. Wahrheit und Lüge werden in dieser Propaganda geschickt vermischt. So verweist der exponierte Unterstützer von Karadzic und langjährige Freund von Kostunica, Professor Kosta Cavoski von der Jura-Fakultät in Belgrad, zu Recht darauf, dass die bosnischen Serben genauso wie die kroatischen Serben, nach der Auflösung Jugoslawiens durch die internationale Diplomatie 1991, lediglich das nationale Selbstbestimmungsrecht verwirklichen wollten, das auch die aus dem Westen unterstützten, separatistischen Nationalisten in Slowenien, Kroatien, Bosnien und Kosovo für sich in Anspruch nahmen. Dass dabei von serbischer Seite allerdings wie bei der Belagerung von Sarajevo ein brutaler Krieg gegen die bosnisch-muslimische Zivilbevölkerung geführt wurde, wird bis heute verschwiegen, verharmlost oder mit Verschwörungstheorien bemäntelt.

Das falsche Bild des Bosnien-Kriegs in Serbien spiegelt so die maßlosen Übertreibungen, die westliche Medien und Führer der bosnischen Muslime von den tatsächlichen Gräueltaten zeichnen. Während diese jahrelang mit einer Opferzahl von über 250 000 Menschen operierten und ausblendeten, dass auch serbische Zivilisten getötet wurden, zeigen seriöse und wissenschaftlich anerkannte Analysen des Untersuchungs- und Dokumentationszentrums in Sarajevo, dass die wirkliche Opferzahl im Bosnien-Krieg bei etwa 100 000 Menschen lag. Etwa zwei Drittel der Opfer waren bosnische Muslime, ein Viertel Serben und etwas über fünf Prozent Kroaten. Auf allen Seiten waren weniger als die Hälfte der Opfer Zivilistinnen und Zivilisten.