Das System ist schuld

Rührt die deutsche Bildungsmisere vom dreigliedrigen Schulsystem her? Die Kritik des Uno-Sonderberichterstatters Muñoz legt dies nahe. von jan langehein

Man darf nicht locker lassen.« Marianne Demmer, die stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und Leiterin des Vorstandsbereichs Schule, hofft nach dem Besuch des Uno-Sonderberichterstatters in Deutschland zumindest auf eine neue Debatte über Bildungspolitik. Immerhin habe Vernor Muñoz Villalobos’ Kritik »einer breiten Öffentlichkeit deutlich gemacht, dass mit dem ›Recht auf Bildung‹ nicht nur das Zugangsrecht gemeint ist«, sagt sie der Jungle World.

Deutsche Bildungsbürger erfanden das humanistische Gymnasium, Generationen von Schülern brachten sie Schillers »Glocke« und Goethes »Erlkönig« bei, und auf die Ergebnisse ihres Schaffens blickten sie stets mit Stolz. Das deutsche Bildungssystem galt als beispielhaft – bis zu den berüchtigten Pisa-Tests. Seither hat die Selbstwahrnehmung einen Knacks abbekommen. Allein die Ankündigung des Uno-Sonderberichterstatters für Bildung, das deutsche Schulsystem inspizieren und seine Schwächen aufzeigen zu wollen, mag für einige Bildungspolitiker und -experten bereits den nächsten Affront bedeutet haben.

Muñoz’ Job besteht im Wesentlichen darin, von Staat zu Staat zu reisen, mit Politikern, Wissenschaft­lern und Lehrern über das jeweilige Bildungssystem zu diskutieren und schließlich Kritik und Empfehlungen zusammenzustellen. Gewöhnlich führt ihn diese Aufgabe in Länder mit hoher Analphabetenquote oder nicht vorhandener allgemeiner Schulpflicht. Vor Deutschland reiste er nach Kenia und Uganda. Seine Bitte, die Bundesrepublik besuchen zu dürfen, muss daher bei den Verantwortlichen den Eindruck erweckt haben, er halte Deutschland für bildungspolitisches Katastrophengebiet.

Was der Juraprofessor aus Costa Rica nach seiner zehntägigen Rundreise zu sagen hatte, stellte einen Angriff auf diverse Grundpfeiler des deutschen Bildungssystems dar. Und er lässt den Politikern, anders als die Pisa-Studie, nicht einmal mehr den Raum, ihre jeweiligen bildungspolitischen Vorstellungen als Heilmittel für die Bildungskrise anzupreisen. Denn während Pisa vor allem die Symp­tome aufgezeigt hatte, lieferte Muñoz gleich eine Analyse der Ursachen mit.

Sein Hauptvorwurf an das deutsche Bildungssystem ist jener der fehlenden Chancengleichheit. Kinder aus armen Familien, Migrantenkinder und behinderte Kinder seien die Opfer eines Systems, das zu früh selektiere und den Unterprivilegierten später kaum noch reale Chancen bieten könne. Das niedrige Bildungsniveau gerade unter Migranten sei auch auf diese Selektion zurückzuführen, nicht etwa auf das mangelnde Potenzial der Kinder. Muñoz’ Schluss­fol­ge­rung lautet: Weg mit dem dreigliedrigen Schul­system! Das formulierte er natürlich diplomatischer, machte aber auch deutlich, dass er sogar des Philologen liebstes Kind, das Gymnasium, für eine veraltete Institution hält. Ein Kompliment, das von einer Ohrfeige nicht zu unterscheiden ist, klingt bei Muñoz so: Das Gymnasium habe eine lange Tra­di­tion und »in der Vergangenheit gute Resultate gebracht«. Jetzt aber sei es Zeit für eine Erneuerung.

Muñoz’ zweiter Kritikpunkt betrifft den administrativen Überbau des Bildungssystems. Weil die Bundesländer für die Schulen zuständig sind, gebe es keine einheitlichen Standards. Einige Länder ließen sich die Ausbildung eines Schülers jährlich 6 300 Euro kosten, andere nur 3 800 Euro – das Ergebnis sei eine Bildung, bei der eine Vergleichbarkeit schulischer Leistungen kaum noch gegeben sei. Gerade erst war im Zuge der Föderalismusreform beschlos­sen worden, auch noch die letzten bildungspolitischen Entscheidungen den Bundesländern zu überlassen. Ein weiterer Schritt in die Richtung, die Muñoz kritisiert. »Ich bin der Falsche, um Herrn Muñoz zu interpretieren«, sagt Florian Frank, Pressesprecher im Bildungsministerium, der Jungle World.

Erwartungsgemäß fielen die Reaktionen auf den Besuch des UN-Sonderberichterstatters geteilt aus. Einige Konservative zeigten sich nachgerade beleidigt ob des Generalangriffs auf das bislang stets heftig verteidigte dreigliedrige Schulsystem. Die FAZ warf Muñoz vor, er habe »nach einer oberflächlichen Stippvisite in einigen Bildungseinrichtungen, die ­sicherlich nicht dem deutschen Durchschnitt entsprechen«, ein anmaßendes Urteil über eine ganze Bildungsstruktur gefällt. Der Vorsitzende des Deutsche Philologenverbands, Heinz-Peter Meidinger, sagte, die Kritik sei »zum großen Teil sehr undifferenziert und hat auch nichts Neues enthalten«. Die Kritik am gegliederten Schulwesen sei zu pauschal und vermittle den Eindruck der Voreingenommenheit.

Diplomatischer, aber in der Sache ähnlich, wies die Bundesregierung die Kritik am deutschen Schulwesen zurück. Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) kontert den Vorwurf der frühzeitigen Selektion nach der vierten Klasse mit dem Argument, das dreigliedrige Schulsystem sei nach einem Baukastenprinzip aufgebaut. Jederzeit bestehe die Möglichkeit, die Schulform zu wechseln. Damit verschwieg sie freilich, dass Muñoz’ Kritik gerade darauf hinausläuft, dass die Hauptschule faktisch ein Abstellgleis darstellt, von dem die ­sozial Benachteiligten nicht mehr herunterkommen. »Bei Teilen der Konservativen besteht die Tendenz, sich gegenüber einem Blick von außen abschotten zu wollen«, kommentiert Marianne Demmer von der GEW.

Zustimmung zu seinen Thesen erfuhr Muñoz von den alten Freunden der Ganztags- und Gesamtschulen. Die Vorsitzende der Grünen, Claudia Roth, lobte, der UN-Berichterstatter habe »den Finger in eine Wunde gelegt«, und forderte stärkere Kompetenzen des Bundes in der Bildungspolitik.

Demnächst will Vernor Muñoz der Bun­desregierung konkrete Empfehlungen geben, wie das deutsche Schulsystem zu verbessern sei. Dass sie die von ihm gewünschten Reformen nach sich ziehen werden, ist nicht allzu wahr­schein­lich, schließlich sind seine Kritikpunkte ja nicht wirklich neu. Die Debatte um das dreigliedrige Schulsystem wird mit wechselnder Intensität seit den siebziger Jahren geführt, nur geht der Trend derzeit besonders deutlich zur Elitenförderung und nicht zur Unterstützung von Schülern aus den so genannten bildungsfernen Schichten. »Wir packen die Reform im Bildungssystem entschlossen an«, sagt Pressesprecher Florian Frank, und das klingt nicht nach einem Richtungswechsel. Marianne Demmer klingt entsprechend pessimistisch: »Wir sehen große Probleme, in den Bundesländern gleiche Lebensverhältnisse zu schaffen, geschweige denn, ein einheitliches Bildungsverständnis zu entwickeln.«