»Ich bin einer der wenigen, die überlebt haben«

Luis Mattini

Am 24. März jährt sich zum 30. Mal der letzte und folgenreichste Putsch in Argentinien. In der westlichen Linken wurde er als weiterer Beweis für die globale Tendenz des Kapitalismus gewertet, auf revolutionäre Herausforderungen mit Terror zu reagieren. 30 000 Menschen wurden von der Junta ermordet oder verschwanden spurlos. Im vergangenen Jahr annullierte der Oberste Gerichtshof das aus den achtziger Jahren stammende Amnestiegesetz.

Der heute 65jährige Luis Mattini (eigentlich: Arnol Kremer) war ein führendes Mitglied der Revolutionären Arbeiterpartei PRT-ERP. Die Organisation wurde von den Militärs restlos zerstört. Mit ihm sprach Jessica Zeller.

Erzählen Sie uns etwas über Ihre eigene politische Geschichte.

Von Beruf bin ich Metallarbeiter, und schon seit meiner Jugend bin ich Marxist. Die Gruppe, in der ich zuerst war, nannte sich »Praxis«. Wir lehnten alles Stalinistische ab, waren aber auch keine Trotzkisten, sondern bewegten uns irgendwo dazwischen. Mehr als von Marx waren wir von Ché Guevara beeinflusst. Als 1966 General Juan Carlos Onganía putschte, schloss ich mich der Revolutionären Arbeiterpartei PRT an. Wir wollten die Diktatur stürzen und eine sozialistische Revolution herbeiführen. 1969 gründeten wir einen bewaffneten Flügel, die Revolutionäre Volksarmee ERP. Der politische und der bewaffnete Arm unserer Organisation waren nicht voneinander getrennt. Die Politiker waren gleichzeitig bewaffnete Kämpfer und umgekehrt.

Wie haben wir uns Ihren damaligen Alltag als Guerillero vorzustellen?

Zum einen war da die ganz normale politische Arbeit: Agitation und Propaganda, der Verkauf von Zeitschriften, der Aufbau von Parteigruppen usw. Dann gab es unsere sozialen Aktivitäten, zum Beispiel verteilten wir regelmäßig Nahrungsmittel und andere Güter in den Armenvierteln. Und schließlich führten wir bewaffnete Aktionen durch. Die ERP kämpfte gegen die argentinische Armee und Polizei und fügte ihnen spürbaren Schaden zu. Bald gewannen wir großen Einfluss in verschiedenen Fabriken. Am Anfang waren wir eine von vielen linken Gruppen, aber zwischen 1972 und 1975, nach dem zwischenzeitlichen Rücktritt der Militärs, sind wir stark angewachsen. Wir hatten etwa 10 000 Sympathisanten, viele im Landes­innern, die alle recht aktiv waren. Unsere Zeitung hatte eine Auflage von 40 000 Exemplaren, das ist für Argentinien sehr hoch.

Am 24. März 1976 stürzten die argentinischen Streitkräfte die Regierung von Isabel Perón. Wie hat Ihre Organisation darauf reagiert?

Wir bereiteten uns auf den Widerstand vor und glaubten, dass es uns gelingen könnte, die Staatsmacht zu schlagen. Immerhin war die gestürzte Regierung vor allem von der Arbeiterbewegung und politischen und sozialen Protesten diskreditiert worden. Was uns völlig unerwartet traf, war die neue Taktik der Militärs.

Man bekämpfte uns nicht mehr von Angesicht zu Angesicht. Militärs in Uniform und in Zivil bevölkerten die Straßen und führten ständig Kontrollen durch. Nachts spürten kleine Gruppen von Soldaten die Aktivisten in ihren Häusern auf, entführten sie und ließen sie »verschwinden«. In den Jahren davor hatte man die politischen Aktivisten in Gefängnisse gesteckt, oder sie wurden bei Gefechten verletzt oder getötet. Jetzt waren sie einfach weg. Das schuf eine Terrorstimmung und unglaublich viel Angst in der Bevölkerung, was uns auch die Unterstützung der Menschen kostete.

Die Militärs ließen uns ausbluten. Recht bald waren 80 Prozent unserer Mitglieder gefangen, entführt, tot oder für immer »verschwunden«. Ich bin einer der wenigen, die mit viel Glück überlebt haben.

Sind Sie während der Diktatur in Argen­tinien geblieben?

Nein, nach einem Jahr des ziemlich aussichtslosen Widerstands bin ich mit einer größeren Gruppe ins Exil gegangen. Zunächst nach Spanien, wo wir uns sammeln und neue Taktiken entwickeln wollten, um nach Argentinien zurückzukehren. Als dieses Vorhaben scheiterte, bin ich nach Schweden gegangen, wo ich knapp zehn Jahre lang gelebt habe.

Die lateinamerikanischen Militärdiktaturen der siebziger Jahre wollten auch das Wirtschaftssystem grundlegend ändern. Wie äußerte sich dies in Argentinien?

Die Diktatur wollte aus Argentinien ein Land machen, das ausschließlich Agrargüter exportiert. Dieses System wurde von den Militärs gewaltsam eingeführt und von den späteren demokratisch gewählten Regierungen perfektioniert. Heute gibt es praktisch keine verarbeitende Industrie mehr, auch der jetzige wirtschaftliche Aufschwung stützt sich weitgehend auf den Export von Soja. Davon profitiert vielleicht ein Drittel der Bevölkerung, vor allem die Agrar­oligarchie. Der Rest bleibt ausgeschlossen.

Hat sich denn Argentinien unter Néstor Kirchner nicht von der neoliberalen Politik der achtziger und neunziger Jahre abgewandt?

Teilweise ja. Vor allem hat er die Forderungen der Menschenrechtsbewegung aufgegriffen, die sein Vorgänger Carlos Menem komplett ignoriert hat. Man spricht öffentlich nicht mehr von den »zwei Dämonen«, also den Militärs und der Guerilla, die angeblich gleichermaßen das Land terrorisierten und auf dieselbe Weise gehandelt hätten. Nach dem Ende der Diktatur fragten uns die Leute vorwurfsvoll, wieso wir überhaupt bewaffnet gekämpft hätten. Heute hört man so etwas nicht mehr. Der Präsident selbst sagt: »Ich bin einer von ihnen.«

Niemand kann bestreiten, dass es heute in dieser Hinsicht viele Fortschritte gibt. Aber es werden nur die Menschenrechtsverletzungen aus der Vergangenheit geächtet, nicht die gegenwärtigen. Und das sind viele. Schließlich gehören das Recht auf Bildung und das Recht auf Gesundheit auch zu den Menschenrechten. Die Vergangenheit zu verurteilen, tut kaum jemandem mehr weh, aber man gewinnt dadurch das Vertrauen der Leute. Und was die wirtschaftliche Situation anbetrifft, ist überhaupt keine Veränderung zu erkennen.

Wie finden Sie als ehemaliger Guerillero diese neue Geschichtspolitik?

Entziehen kann ich mich dem nicht. Ich finde es großartig, dass ich heute als Held der siebziger Jahre gelte und nicht länger als ehemaliges Mitglied einer illegalen Vereinigung. Aber das genügt mir nicht. Denn kaum gehe ich aus dem Haus, sehe ich einen Cartonero mit seinen Kindern, die den Müll vor den Häusern nach etwas Brauchbarem durchwühlen. Es gibt mittlerweile überall Bettler. Die Situation im Landesinnern ist schlimmer als je zuvor. Aber das sieht keiner. Man sieht nur die Erinnerungspolitik.

Das wird bei den offiziellen Veranstaltungen zum Jahrestag des Putsches nicht anders sein. Aus Respekt vor meinen getöteten Compañeros und meinem verschwundenen Bruder werde ich mich zwar daran beteiligen, aber diese Dinge liegen nicht im Mittelpunkt meines Interesses. Ich sorge mich mehr um die Gegenwart.

Viele frühere politische Aktivisten unterstützen dennoch die Regierung Kirchners und arbeiten mit ihr zusammen. Sind Sie noch politisch organisiert?

Ich gehöre keiner Partei an, und eine Regierung unterstütze ich schon gar nicht. Ich arbeite mit Gruppen und Bewegungen, die nach den sozialen Aufständen der Jahre 2001 und 2002 entstanden sind und heute noch bestehen. Fragt man mich nach meiner Einstellung, bin ich noch immer ein Anhänger Ché Guevaras, wie ich es als 18jähriger war. Ich gebe mich nicht damit zufrieden, dass man sowieso nichts verändern könne. Ich bin 65 Jahre alt und habe vor, als Rebell zu sterben.