Wer zu spät tagt

Die Kommunistische Partei Vietnams ist mit den größten öffentlichen Protesten seit 1975 konfrontiert. Auch hohe Funktionäre fordern Reformen. von marina mai

Der Unmut der Bevölkerung ist nicht mehr zu übersehen, öffentliche Proteste werden häufiger. Die allein regierende Kommunistische Partei erscheint politisch wie gelähmt, viele Funktionäre fordern Reformen. Ein wenig erinnert Vietnam an die DDR im Jahr 1989.

Doch während in der DDR die Wirtschaft bis zum Schluss staatlich organisiert war, werden im offiziell noch immer sozialistischen System Vietnams der privatkapitalistischen Tätigkeit kaum noch Beschränkungen auferlegt. Wegen seinen niedrigen Löhnen und einer gut ausgebildeten Bevölkerung ist das Land bei Investoren sehr beliebt. Um die acht Prozent beträgt das jährliche Wirtschaftswachstum. Das verspricht Investoren hohe Gewinne unter günstigen Bedingungen, denn So­zial- und Umweltstandards fehlen fast völlig.

Damit aber wollen sich viele Arbeiter nicht mehr abfinden. Anfang Februar fanden die größten Streiks in der vietnamesischen Geschichte seit dem Kriegsende 1975 statt. 60 000 Beschäftigte ausländischer Unternehmen in zwei südvietnamesischen Provinzen streikten für die Erhöhung des Mindestlohns. Mit Erfolg: Er wurde je nach Region auf 45 bzw. 55 Dollar im Monat heraufgesetzt.

Die Proteste richteten sich nur zum Teil gegen die ausländischen Unternehmer, der Hauptadressat war die Regierung. Denn sie ist es, die die Löhne aushandelt. Direkte Verhandlungen zwischen Beschäftigten der Unternehmen und ihren amerikanischen, französischen, deutschen oder malaysischen Vorgesetzten sind untersagt. Und die Behörden verlangen von ausländischen Investoren Schmiergelder und Gebühren, die deutlich höher sind als die von den Unternehmern ausbezahlten Löhne.

Vor dem Machtzentrum Vietnams, dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei in Hanoi, finden seit Monaten Sitzblockaden statt. Die rund 40 wechselnden Demonstranten protestieren gegen Beamtenwillkür und Korruption in ihren Provinzen. Sie sind Bauern, die für Straßenbauarbeiten von ihren Grundstücken vertrieben wurden und keine Entschädigung erhielten. Prominenteste Demonstrantin ist die ehemalige Ehefrau des Staatspräsidenten Tran Duc Luong. Die mittellose Frau, die sich mit den Wortführern der enteigneten Bauern verbündet hat, fordert für sich und ihre Tochter Unterhalt. Die Polizei inhaftiert immer wieder Demonstranten für einige Tage und hindert die Hanoier daran, sie mit Nahrung und Kleidung zu unterstützen. Die Proteste unterbinden kann sie nicht.

Dass den Forderungen von Streikenden nachgegeben wird und öffentliche Proteste widerwillig geduldet werden, sind Anzeichen für eine Schwäche der staatlichen Kontrolle. Ob diese Kontrolle weniger streng gehandhabt werden soll, dürfte eines der zentralen Themen beim 10. Parteitag der Kommunistischen Partei sein, der am 18. April beginnen soll. In vietnamesischen Medien wurde der Termin noch nicht verkündet. Hingegen informierte das vietnamesische Außenministerium Mitte März ausländische Regierungen über Einreisebeschränkungen nach Vietnam. Bis Ende April sollen Visa der Kategorie D, das sind Kurzzeitvisa für Individualtouristen, ihre Gültigkeit verlieren. Begründet wird diese Maßnahme mit dem Parteitag, doch bislang hatte es aus diesem Anlass noch nie Einreisebeschränkungen gegeben. Allerdings gab es auch noch nie so viele Touristen, deren Kontrolle die Sicherheitsbehörden offensichtlich überfordert.

Parteitage finden in Vietnam immer in einem festen Fünfjahresrhythmus statt. Auf ihnen werden die wichtigsten inhaltlichen und personellen Entscheidungen getroffen. Eigentlich war der 10. Parteitag für Januar geplant. Doch der Parteiführung war es in ihrer vorbereitenden Plenarsitzung nicht gelungen, sich über die anstehenden Personalentscheidungen zu verständigen. Deshalb wurde der Termin – ein absolutes Novum – verschoben.

Ausgelöst hatte die Flügelkämpfe Vietnams ehemaliger Premierminister Vo Van Kiet. Er rief seine Partei in Artikeln auf den staatlichen Internetportalen Vietnamnet und Thanh Nien online sowie in der Wirtschaftszeitschrift Dai Tu zu radikalen Reformen und einer »mutigen Berichtigung der Fehler der Vergangenheit« auf. Sonst werde Viet­nam wirtschaftlich nicht an die Industriestaaten und China anknüpfen können. Das Land brauche Rechtssicherheit für Investoren statt Misstrauen und Behördenwillkür ihnen gegenüber, es müsse endlich die weit verbreitete Korruption ernsthaft bekämpfen. Der Politiker, der 1986 zu den Verfechtern der Erneuerungspolitik »Doi Moi«, der vietnamesischen Variante der Perestroika, gehörte, gern mit Michail Gorbatschow verglichen wird und von 1991 bis 1997 Regierungschef war, kritisierte das Verfahren zur Wahl der Parteitagsdelegierten als »undemokratisch«. Die eigentliche Macht hätten noch immer »dunkle Mächte« um den ehemaligen Präsidenten und Reformgegner Le Duc Anh inne.

Dass Vo Van Kiet seine Forderungen nach Erneuerung in den staatlich kontrollierten Medien veröffentlichen darf, liegt zum Teil daran, dass der fast 80jährige wegen seines Alters und seiner Verdienste eine Art Narrenfreiheit genießt. Doch er ist kein skurriler Einzelkämpfer. Vor einem Jahr forderten mehrere ebenfalls hochbetagte ZK-Mitglieder, hochrangige Militärs und Universitätsprofessoren eine demokratische Kontrolle über den mächtigen Geheimdienst Cuc Hai sowie staatsanwaltliche Ermittlungen gegen ihn. Sie hatten aufgedeckt, dass Le Duc Anh mit Hilfe erfundener Geheimdienstdossiers politische Gegner ausgeschaltet haben soll. Bei der Veröffentlichung mussten sie sich noch der Exilpresse bedienen. Seitdem hat sich die Situation im Land geändert.

Vom kommenden Parteitag werden wichtige Personalentscheidungen erwartet. Die Angehörigen der Generation, die am Befreiungskampf gegen Franzosen und US-Amerikaner teilnahm, sollen und wollen sich aus der Politik zurückziehen. Das betrifft den Staatspräsidenten, den Ministerpräsidenten sowie den Innen-, Außen- und Verteidigungsminister. Den Nachfolgern, von denen die Rede ist, fehlt die Erfahrung des Befreiungskampfs und die damit einhergehende Legitimation, ihren Staat, dergegen die USA einen militärischen Sieg errungen hat, glaubhaft zu repräsentieren. Sie verfügen über akademische Abschlüsse aus den ehemals realsozialistischen Staaten, doch nicht alle halten am absoluten Herrschaftsanspruch der KP fest.

Der als möglicher neuer Staatspräsident gehandelte Nguyen Khoa Dien hat eine Universität in der UdSSR besucht und sich in Vietnam als Befürworter einer scharfen Zensur in den Medien und im Internet profiliert. Le Dang Doanh, der in der DDR ausgebildet wurde und Wirtschaftsberater mehrerer Premierminister war, fordert dagegen in Zeitungsartikeln, die führende Rolle der Kommunistischen Partei aus der Verfassung zu streichen. Dort ist garantiert, dass die einzig existierende Partei entscheidet, wo es lang geht. Seit der wirtschaftlichen Öffnung bedeutet das, dass Investoren auf die Gunst der schlecht bezahlten Parteifunktionäre angewiesen sind, die sich mit ihrem Einfluss häufig viele Dollar dazu verdienen möchten.

Ob auch Parteichef Nong Duc Manh, der erst seit fünf Jahren im Amt ist, gehen wird, ist nicht bekannt und wird wohl hinter verschlossenen Türen heftig diskutiert. Er wurde damals gewählt, weil er keinem der streitenden Flügel angehörte und als integrationsfähig galt. Doch die Zeit, in der man die divergierenden Flügel einen könnte, ist möglicherweise in Vietnam vorbei.