Fuck! Shit! Gähn!

Die Provokation in der Popmusik ist kaum mehr als eine Verkaufsmasche, wenn sie nicht sinnvoll eingesetzt wird. von felix klopotek

Hope I die before I get old« – diese Textzeile von The Who aus ihrem Song »My Generation« ist die ultimative Provokation. Denn die Absage an die Erwachsenenwelt, das Establishment, die Verkümmerung der Sinnlichkeit, an Resignation und Anpassung ist so radikal, dass der Protagonist, der in dem Song seine Stimme erhebt, bereit ist, oder genauer: es in Kauf nimmt, mit seinem Leben für sie zu bezahlen.

The Who haben »My Generation« vor 40 Jahren gesungen und damit paradoxerweise die vielleicht unsterblichste Pop-Zeile überhaupt geschaffen. Jenes »Hope I die before I get old« war ja strenggenommen nur Ausdruck eines flüchtigen Lebens­gefühls, das The Who in allen ihren frühen Songs thematisierten: Angst, Unsicherheit, Verwirrung und – nach außen gekehrt – Hass auf die Leu­te, die die jungen Menschen in ihrem Prozess der Selbstbestimmung gängeln und bevormunden – die Erwachsenen, das Establishment. »Hope I die before I get old« ist nur ein Moment dieses Panoramas juvenilen Zweifelns und Leidens, das seine definitive Form in dem ostentativen Stottern des Sängers Roger Daltrey findet, »P-people t-t-try to put us down«, eine Form, die die Band allerdings bald überwunden haben sollte. Die Provokation ist hier jedoch noch kein Selbstzweck, sondern Bestandteil einer künstlerischen Totalität, eingebettet in ein System aus Verweisen und Bezügen.

Die Mitglieder von The Who waren im Durchschnitt 20 Jahre alt, als sie »My Generation« sangen. Nicht mal zwei Jahre nach dieser Erfolgs­single, die immerhin so provokant war, dass ihr das Establishment die Anerkennung als Nr.1-Hit verwehrte und sie in den Verkaufscharts betrügerischerweise zu niedrig einstufte, dachten sie, allen voran ihr Mastermind Pete Townshend, in anderen, ausgereifteren Formen und spielten mit »A quick one while he’s away« ihre erste Minioper ein.

Auf dem Album »The Who live at Leeds« von 1970 kann man die Aufhebung von »My Generation« in diese größere Form unmittelbar nachvollziehen. Die Musiker überführen das Stück in eine Rock-Revue, in der Fragmente aus der The Who-Oper »Tommy« auftauchen. Es gibt hier hochdramatische Momente, das Schlagzeug donnert, die Gitarrensoli quietschen. Da geht es nicht mehr um Teenager-Angst, sondern um einen Entwicklungs- und Reifeprozess, in dem diese Angst nur ein Moment ist. Das Ziel aber ist das erhabene Kunstwerk, in dem die Affekte – Angst, Wut, Euphorie, Kontemplation – perfekt balanciert sind.

The Who führen somit exemplarisch die Entwicklungsgeschichte der Provokation vor. Ihre ­Energie, die aus dem befreienden Akt entsteht, das konformistische moralische Gewissen ihrer Zeit herauszufordern, befeuert die eigene Kunst. Es geht um das Projekt, irgendwann eine Musik entstehen zu lassen, die nicht mehr provoziert, die dieses Stadium überwunden hat, die aber gleichwohl nichts wäre ohne diese Provokation.

The Who sind dank der Genie- und Größenwahn-Obsessionen ihres Songwriters Pete Townshend natürlich ein wunderbares Objekt, um sich über Entwicklung, Reife und künstlerische Totalität zu verständigen. Aber sehr vieles von diesem Weg findet sich auch in der Werkgeschichte anderer Popmusiker. Johnny Cashs Provokation des Country- und Bob Dylans Provokation des Folk-Establishments ermöglichten die radikale Ausdifferenzierung ihrer jeweiligen musikalischen Sprachen. Die aggressiven Ursprünge von Public Enemy, Boogie Down Productions und KRS One sind die Grundlage, auf der sich auch ein radikales politisches Bewusstsein bildet. Die Provokation, die von einem Musiker ausgeht, wirkt belebend, wenn nicht revolutionierend auf eine ganze Szene. Ornette Colemans früher Free Jazz war der Weckruf für John Coltrane und die ultimative Herausforderung für Miles Davis. Immer ist die Provokation ein Moment, ein Durchgangsstadium, eine instabile Situation, in vielen Fällen will der Künstler auch gar nicht provozieren, sondern kann schlicht nicht anders – alles andere hätte seine künstlerische Integrität unwiderruflich beschädigt.

Die Provokation markiert eine Situation der radikalen Entäußerung. Sie zielt auf öffentliche Erregung oder nimmt sie billigend in Kauf. Das Maß der öffentlichen Erregung entscheidet über eine erfolgreiche Provokation oder eine einfache Belanglosigkeit – und fällt damit auch das Urteil über den Gehalt des Kunstwerks. Dieser bestimmt sich im Moment der Provokation nicht durch die Immanenz der Musik (oder der Malerei, der Inszenierung etc.), sondern durch den öffentlichen, negativen Widerhall. Wird die Provokation jedoch zur Masche, zu einer vom jeweiligen Inhalt der Kunst abgelösten Methode, einer fixen Idee, führt dies zur Verdinglichung, zur geistigen Provinzialisierung. Es gibt keine Veränderung, keinen Fortschritt, sondern endlose Varia­tio­nen des Immergleichen, die, um der Ermüdung des Publikums durch die ewige Wie­der­kehr vorzubeugen, umso greller inszeniert werden, was das Abschlaffen nur noch stärker forciert. Es gibt Skandale, Tabubrüche und Provokationen, an die man sich heu­te noch erinnert.

Aber gibt es »Skandalpopper«, die der Erinnerung wert sind? »Taburocker«? »Provorapper«? Es ist nicht schlimm, dass die beiden The-Who-Überlebenden Daltrey und Townshend heute noch »Hope I die before I get old« spielen, sondern dass sie überhaupt noch unter dem Namen The Who auftreten und den Zeitpunkt des Aufhörens um mindestens 30 Jahre verpasst haben.

Die Provokation ist ein konstitutives Merk­mal eines gutes Popsongs – aber eben nur eines von vielen. Wird sie verabsolutiert, desavouiert sie sich selbst. Wer dauernd provozieren will, macht sich selbst von der zu erregenden Öffentlichkeit abhängig und erst recht von der Kulturindustrie, die die aufgegeilte Öffentlichkeit braucht, um ihren Konsumgütern das Maß an Aufmerksamkeit zuzuführen, das einen gewinnbringenden Absatz garantiert. Einen Skandal hervorzurufen, ist etwas grundlegend anderes, als einen Skandal nötig zu haben.

Deshalb ist es problematisch, dem Pop ein Recht auf Provokation unterzuschieben. Als sich Dylan 1965 in Newport eine E-Gitarre umgeschnallt hat, um damit ein wertkonservatives Folkfestival zu rocken, hat er nicht gefragt, ob er ein Recht darauf hat und sich auch nie auf irgendein verbrieftes Recht berufen, die Folkies bis aufs Blut provozieren zu dürfen. Er hat es einfach gemacht, aus der inneren Notwendigkeit seiner Kunst heraus, die auch die Abgrenzung nach Außen beinhaltet – zu bestimmten Szenen, Traditionen, Kollegen etc. Zu reden gewesen wäre also nicht über »die Pro­vo­ka­tion«, sondern über den Gehalt seiner Kunst.

Natürlich – Pop ohne Kulturindustrie geht nicht, gibt es nicht. Aber Musik, die unter den Bedingungen der Kulturindustrie geschrieben, produziert und aufgeführt wird, muss sich nicht diese Bedingungen voll­ends zu eigen machen. Es gibt im Rahmen eines Popsongs, einer Jazz-Improvisation oder einer kammermusikalischen Kom­position die Möglichkeit, über Abhängigkeit und Autonomie, über Subsumtion und Dissidenz zu reflektieren und dann etwa zu entscheiden: Meine Songs klingen nur noch mit E-Gitarre gut. Über diesen Prozess ist zu urteilen. Einen Durchgangsmoment dieses Prozesses herauszulösen – beispielsweise die Provokation – und zum Zweck, zur ewigen Kon­stante zu verklären, bedeutet, diesen Prozess mutwillig zu verstümmeln und sein Ergebnis direkt auf die Produktions- und Distributionsstandards der Kulturindustrie auszurichten.