Provo-Maschine im Leerlauf

Alle fünf Minuten produziert die Popkultur einen neuen Eklat. Aber wer provoziert wen? Und aus welchen Gründen? Und wem nützt dies? von jörg sundermeier

Nehmen wir zunächst »Modern Sleep«. Dabei handelt es sich um eine Serie von Fotografien von Gottfried Helnwein aus dem Jahr 2004. Die Bilder sind dunkel gehalten, das Licht knapp, ein junges Mädchen ist zu sehen, geschminkt, bleich, die knallroten Lippen geöffnet oder geschürzt, eine klassische Fotografie mit Gruftstimmung, wie sie sich die Fans von Helnwein erhoffen dürfen, morbid und auf eine gewisse Weise, gemäß den üblichen Lesarten, wohl auch erotisch.

Das Mädchen trägt nichts bis auf eine Uniformjacke, und erst hier entsteht kurz eine Spannung – es ist nicht irgendeine, sondern eine schwarze, die an die Uniform der SS erinnert. Das an sich Obszöne, nämlich die erotische Inszenierung eines Kindes, wird erst recht obszön durch die überdeutliche Inszenierung der Unschuld des Kindes. Helnwein hat sich eines klassischen Images bedient, das angegriffene, das Mädchenopfer in der Jacke der Schlächter. Wir kennen es aus tausend Filmen, einer Million Videoclips und einer Fantastillion Pornofotos. Das Bild ist gerade erst wieder im Rahmen der Ausstellung »Helnwein – Diary of the artist against violence« in Houston zu sehen gewesen, ebenso in Helnweins neuestem Buch »Face it«.

Es ist nicht gut. Es ist nicht mal böse. Es ist banal. Die Fotos sind effektvoll ausgeleuchtet, gut fotografiert, das Mädchen ist gut geschminkt, am Handwerk ist also nicht groß zu meckern. Doch das Motiv wirkt nicht einmal mehr provokativ.

Es verhält sich mit dieser Fotoserie wie mit jener Rammstein-Fotoserie aus dem Jahr 1997. »Sehsucht« hieß das Album, das mit sechs verschiedenen Covers erschien, die jeweils ein Mitglied der Band zeigten und alle von Helnwein gestaltet waren. Dieser imitierte mit den Covers, was er am Anfang der achtziger Jahre, damals unter anderem für die Scorpions, gemacht hatte. Damals wirkten seine Bilder noch recht verstörend, als Kommentar zum Menschen in Zwangssystemen (oder in der Psychiatrie) zu verstehen. Heute, da diese Bilder zu Images geworden sind, weil Helnwein sie wieder und wieder reproduziert hat, bleibt von der Verstörung nichts mehr übrig. Sie sind, um einmal ein Beispiel zu nennen, das sogar schon als Beispiel für das, was es erklären will, extrem überstrapaziert ist, wie die Che-Guevara-Images völlig bedeutungslos geworden. Hinter diesen Bildern wird keine Welt mehr wahrgenommen. Es ist bestenfalls ein Kommentar zum Kommentar des Kommentars, der gesamte Sinn verliert sich in der Bilderwelt.

Als anderes Beispiel nehmen wir die Band Laibach, die aus dem Kunstkollektiv »Neue Slowenische Kunst« (auch in Slowenien auf Deutsch) hervorgegangen ist. Wirkte diese Band in den achtziger Jahren allein ihres Namens wegen in Jugoslawien schon provozierend, war ihre Strategie der nicht selten doch recht simplen Gleichstellung von Nazi- und Tito-Bildern eine Tat, für die sie in Jugoslawien durchaus noch hätte bestraft werden können, und war schließlich ihr permanentes Heraufbeschwören des deutschen, also des nazistischen Aggressors für ganz Europa ein außerordentlich verstörendes Moment, so hat sich der Effekt inzwischen fast vollständig verloren.

Als Laibach Mitte der achtziger Jahre den Mitklatsch-Hit der Gruppe Opus »Life is Life« in ein düster gebelltes »Leben Heißt Leben« übersetzten und so den vitalistischen Drall freilegten, der sich in den Zeilen »When we all get the power / We all give the best / Every minute of an hour / Don’t think about the rest / And you all get the power / You all get the best / And everyone ­gives everything« verbirgt, bellten einige der Fans den Text vielleicht mit, niemand aber hätte dabei aber je irgendetwas ernst gemeint. Der Song war, wie man damals sagte, »eindeutig ironisch gebrochen«.

Denn die Codes stimmten. In Europa galt jeder junge Mensch, der die deutsche Sprache verwendete, als Enkelin oder Enkel eines Wehr­machtssoldaten. Die Nazis, ja, alle Deutschen, waren für Franzosen oder Polen die, die die eigenen Großeltern oder die des Schulbanknachbarn getötet hatten. In Deutschland und Österreich dagegen hob man mit dieser ästhetischen Taktik den Teppich an, unter den die Kriegs- und die Nachkriegsgeneration die Verbrechen gekehrt hatten.

In Zeiten aber, in denen wahlweise ­George W. Bush, Tony Blair, Ariel Sharon, Slobodan Milosevic oder Saddam Hussein nicht nur als »neuer Hitler« gelten, sondern diesem ebenbürtig sein sollen, verliert sich der provokative Effekt vollends. Die Codes funktionieren nicht mehr.

Als Laibach mitten in den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien eine Platte mit dem Titel »Nato« veröffentlichten, auf der nur »Anti-War-Songs« gecovert wurden, war dies als ein politisches Statement zu verstehen, und es wurde »verstanden«. Als sie aber, wie vor zwei Jahren, eine solche Coverversion in der Berliner Volksbühne spielten, wusste das Publikum, das zu einem nicht geringen Teil aus mehr oder minder dem Nazi-Chic verfallenen Gothic-Männern bestand, nichts mehr damit anzufangen. Ein Statement gegen oder für den Irak-Krieg? Ein altes Lied? Die sexy BDM-Mädel, mit denen sich die Band zierte, waren ebenfalls nichts mehr als ein hübsches Beiwerk, das dem bürgerlichen Popfreund ein erregendes Erlebnis bescherte, der Antifa einen wohligen Schauder und dem Dark-Wave-Nazi ein neues erotisches Ideal.

Was gestern noch in der Kunst mittels eines Tabubruchs provozierend wirkte, ist heute affirmativ. Auf diese einfache Formel lässt sich reduzieren, was die heute tätigen professionellen Provokateurinnen und Provokateure so eklig macht. In Theater, Literatur, Musik, bildender Kunst und im Kino sind Hakenkreuze, Scheiße, Kotze, Sperma und Blut obligatorische Gegenstände. Sie allein bringen nichts mehr und waren nur in jenen kurzen Momenten halbwegs wirksam, in denen die bürgerliche Gesellschaft angreifbar war. Nicht, dass sie zwangsweise bedeutungslos sind, doch erst der Kontext gibt ihnen Bedeutung.

Ein Schock ist nicht mehr heilsam, weil er tagtäglich in den Nachrichten kommt, weil er heutzutage im Effektjournalismus die Nachricht ist. Das sich selbst entwürdigt habende Individuum ist durch die Entwürdigung seiner selbst oder durch die Entwürdigung anderer Leute nicht mehr zu provozieren. Es schaut hin und sieht sich selbst, es lacht vielleicht, grimmig oder laut, doch dieses Lachen ist nicht frei und nicht befreiend.

Gerade im Pop, der mit einfachen Mittel arbeiten will und muss und der Oberfläche (selbst bei ihrer Zerstörung) verpflichtet ist, also in dem, was heute als Popliteratur, Popmusik, Popkunst gilt, kann die Provokation nichts mehr bewirken. Sie ist bereits vorab affirmiert, sie ist Verpflichtung geworden.

Nun befinden wir uns spätestens seit Mitte der neunziger Jahre in einem Kulturkampf, der mehr oder minder erfolgreich von rechts geführt wird, und vor diesem Hintergrund fragt man sich, wer hier eigentlich wen provoziert.

Daher sollte man sich vielleicht doch noch einmal denen zuwenden, die – gerade auch von links – als »Gutmenschen« verlacht worden sind. Tatsächlich sind jene, die mit diesem Wort ursprünglich gemeint gewesen sind, bis heute nervig, sie ringen allenthalben um das Gute, Schöne und Wahre, das sie in Han­dy­strah­len, billigem Essen oder scharf geführten Diskussionen partout nicht erblicken können. Sie verweigern sich vehement irgendwelchen Argumenten und Analysen und »meinen« und »fühlen« immer dort, wo andere wissen wollen. Sie sind wie Tomte oder Juli, wie Benjamin Lebert oder Judith Herrmann, sie malen niedliche Bilder und sagen kleine Blödheiten. Sie sind langweilig. Sie bekennen sich alle irgendwie zu der Gesellschaft, in der sie nicht alles prima finden, aber auch nichts ganz schlimm, und sie vergessen ihre Erregung, wenn es daheim ein Eis gibt.

Ihre Ansichten gehören kritisiert, keine Frage. Sie sind allerdings nicht ganz so sexistisch, herrenreiterisch, rassistisch, nationalistisch und auf jeden Fall ätzend wie all jene, die gerne als böse Buben oder Mädels auffallen wollen und sich damit durchaus auch der Kritik der Linken entziehen, denn auch der und die Linke fühlen sich amüsiert.

Mit dem »Gutmenschen« ist ein Kampfbegriff gegen die bürgerliche Lebensweise etabliert worden, und zwar von jenen, die sich langweilen, nicht von jenen, die etwas anderes oder besseres suchen. Der Begriff ist seinen Erfindern längst auf die Füße gefallen, heute sind es vor allem Rechte, die um jeden Preis provozieren wollen, die ätzen, die »nicht so moralisch« daherkommen wollen und die all jenen, denen nun mulmig geworden ist, vorwerfen können, lachend, dass sie ja ganz schön langweilig sind. Wer aber langweilig ist, der nimmt nicht ganz so begeistert am Verwertungsprozess teil. Wo keine Revolution zu erwarten ist, ist Verweigerung allemal eine bessere Strategie als die aggressive Teilnahme.