»Gewehre gibt es hier genug«

Während in Wien über die Modalitäten der Unabhängigkeit des Kosovo verhandelt wird, bereiten sich die Serben in Kosovska Mitrovica auf das letzte Gefecht vor. von boris kanzleiter

Der hagere Mann zeigt mit seinem aus­gestreckten Arm auf die Straße am Flussufer. »Dort lag er. Er hat stark geblutet«, schnauft der Augenzeuge des Mordanschlags, der hier vor einer halben Stunde verübt wurde. »Ein Albaner kam über die Brücke. Hat ihm das Messer in den Bauch gestoßen. Ist in den Süden davon gerannt. Wir haben den blutenden Jungen versorgt, bis der Krankenwagen kam. Jetzt wird er operiert.« Der Mann presst kurze Sätze aus sich heraus, umringt von Neugierigen, die in der Abenddämmerung aus den Seitenstraßen zur Brücke strömen, die den serbischen Norden mit dem albanischen Süden der Stadt verbindet. Ob das Opfer des Überfalls, der 19jährige Milisav Ilincic, überleben wird, ist ungewiss.

Während die UN-Polizei an der Brücke im Zentrum der geteilten Stadt Kosovska Mitro­vica hektisch Aufstellung nimmt, wird die erregte Menschenmenge um den Augenzeugen größer. Ein paar Jugendliche reißen Steine aus dem Pflaster und schlagen sie aneinander. Das Klackern hallt über die Szenerie in die Dämme­rung. Kleine Gruppen von Kampfsportlern – die so genannten Bridgewatcher – sind aus ihrem Treffpunkt, dem benachbarten Café Dol­ce Vita, an die Brücke gekommen. Sie begeben sich an den Rand des Geschehens und tippen auf ihren Mobiltelefonen herum. Aus der Menschenmenge dringen immer wieder Gesprächsfetzen: »Reißt die Scheiß-Brücke ab«, ruft eine Frau. »Bush und Solana sollten an ihren eigenen Gedärmen aufgehängt werden«, fordert ein Mann. Als die Umstehenden erfahren, dass sie mit einem Journalisten aus Deutschland sprechen, lassen sie ihrer Wut freien Lauf: »Ihr seid alle Lügner! Für euch sind doch immer die Serben die Verbrecher! Kein Wort über die albanischen Terroristen!«

Ein Abend in Kosovska Mitrovica Ende März 2006, sieben Jahre nach dem Nato-Bombardement und dem Einmarsch internationaler Trup­pen in die südserbische Provinz. Befinden wir uns noch in der Nachkriegsphase oder schon wieder in einer Vorkriegssituation? Angesichts regelmäßiger Übergriffe und permanenter Unsicherheit scheint es den meisten hier nur eine Frage der Zeit, bis es wieder zu größeren Zusammenstößen kommt. Für viele Menschen im Kosovo hat der Krieg ohnehin nie aufgehört. Seit der internationalen Intervention im Frühjahr 1999 hat die Gewalt lediglich an Intensität verloren und neue Formen angenommen.

Am Abend des Überfalls auf Mili­sav Ilincic steht Kosovska Mitrovica kurz vor einem neuen Gewaltausbruch ähn­lich wie im März vor zwei Jahren, als das Kosovo nach koordinierten Angriffen von Zehntausenden albanischen Nationalisten auf Ser­ben, Roma und die UN-Übergangsverwaltung Unmik zwei Tage lang in Brand stand und an der Brücke von Mitrovica scharf geschossen wurde. Wie schon so oft in den vergangenen Jahren.

An diesem Abend wird nicht geschossen. Um Provokationen zu vermeiden, hält sich die UN-Polizei auffallend zurück. Sie macht keinen Versuch, die Menge zu zerstreuen. Der gefechtsbereite Patrouillenwagen der französischen Kfor-Truppe, auf dem hinter einem auf­gepflanzten Maschinengewehr ein maskierter Soldat steht, hat sich ebenfalls zurückgezogen. Normalerweise fährt er alle zehn Minuten an der Brücke und dem Dolce Vita vorbei die Hauptstraße hinauf. Die Nachricht verbreitet sich, dass Milisav Ilincic die Notoperation überlebt hat. Das bestärkt die Beson­nenen unter den versammelten Serben. »Wir schaden uns doch selbst, wenn wir die UN-Polizei angreifen«, sagt ein älterer Mann. Bridgewatcher und die im Straßenkampf geschulten Jugendlichen scheinen ihm zuzustimmen. Die Menge zerstreut sich. Die Verbitterung bleibt.

Es ist ein merkwürdiger Zustand des Wartens und der Spannung, der sich in diesen Wochen im Kosovo ausbreitet. Die Zeit der Entscheidung rückt näher. Seit Anfang Februar treffen sich in Wien unter Führung des ehemaligen finnischen Premierministers und UN-Vermittlers Martti Ahtisaari Delegationen der Serben und Kosovo-Albaner zu Gesprächen, um über den umstrittenen völkerrecht­lichen Status des Kosovo zu verhandeln. Die Ansichten scheinen unvereinbar zu sein.

Politiker aller albanischen Parteien in der Pro­vinz betonen, nach »Jahrzehnten der Fremd­herrschaft« müsse das Kosovo das »Recht auf Selbstbestimmung« geltend machen und endlich unabhängig werden. Die serbische Regierung habe keinen Anspruch mehr auf die Provinz, weil die große Mehrheit der etwas über zwei Millionen Einwohner Albaner seien, die einen eigenen Staat wünschten. Durch Kriegsverbrechen an der albanischen Zivilbevölkerung habe Serbien auch das moralische Recht verloren, das Kosovo in seinem Staatsgebiet zu halten, heißt es immer wieder. Von der Unabhängigkeit versprechen sich die Kosovo-Albaner den lange ersehnten wirtschaftlichen Aufschwung der Provinz, in der etwa 60 Prozent der Bevölkerung arbeitslos sind.

Die Serben dagegen haben eine Unabhängigkeit des Kosovo kategorisch ausgeschlossen. Präsident Boris Tadic und Premierminister Vojislav Kostunica schwören feierlich, ihre Hände würden eine Vereinbarung über die Abspaltung des Kosovo niemals unterschreiben. Die Provinz gilt als das historische spirituelle Zentrum der serbisch-orthodoxen Kirche. Die Kosovo-Serben befürchten, im Fall der Unabhängigkeit zu einer rechtlosen Minderheit zu werden, und verweisen auf die nie­mals zur Anklage gebrachten Kriegsverbrechen der Kommandos der Kosovo-Befreiungsarmee UCK. Über 200 000 Serben und Roma mussten seit Juni 1999 die Provinz verlassen, weil sie Opfer bewaffneter Überfälle albanischer Nationalisten wurden oder aus Angst davor flohen.

Allenfalls eine weit reichende Autonomie sind die Kosovo-Serben bereit zu akzeptieren, und auch das nur, wenn sie weiterhin über eine eigene Justiz und Polizei verfügen können. Wie lange die Gespräche dauern werden, ist noch un­gewiss. Vielleicht bis in den Herbst, wie Ahtisaari wünscht. Vielleicht bis Anfang nächsten Jahres, wie viele Beobachter meinen. Vielleicht brechen die Verhandlungen aber auch vorzeitig ab, weil irgendwo im Kosovo eine Situation wie die an der Brücke in Mitrovica außer Kontrolle gerät.

Das Kosovo im Frühjahr 2006: Die UN-Verwaltung und die Kfor – die »Internationalen«, wie sie hier genannt werden – stehen unter gewaltigem Druck der albanischen Bevölkerungs­mehrheit. An vielen Häusern in den belebten Straßen rund um den Marktplatz und die Moschee im Süden Mitrovicas prangen Graffitis: »Jo negociata – Vetevendosje!« (Keine Verhandlungen – Selbstbestimmung!) Mit dieser Parole wirbt die Jugendbewegung Vetevendosje des Studentenführers Albin Kurti für die Unabhängigkeit. Die Bewegung ist eng mit Adem Demaci verbunden, dem früheren Sprecher der UCK und Präsidenten des Schriftstellerverban­des des Kosovo. Im albanischen Machtkampf kritisierte der ehemalige ­Maoist immer die Zu­sammenarbeit anderer UCK-Führer mit der Nato.

Für Kurti sind bereits Verhandlungen um eine Lösung der Statusfrage Verrat am albanischen Volk. »Das Recht auf Selbstbestimmung ist kein Verhandlungsgegenstand«, erklärt er immer wieder. Auf Veranstaltungen und bei Aktionen plädiert er für den unverzüglichen Ab­zug von Unmik und Kfor, die er als in­kompetente und überbezahlte »Kolonialisten« bezeichnet.

Zum Repertoire der Jugendorganisation zählen Aktionen wie das öffent­liche Zerstechen der Reifen von Fahrzeugen der Unmik, wie kürzlich vor der Polizeistation im Zentrum des süd­lichen Mitrovica. In diesem Fall griff die Polizei nicht ein, um größere Auseinandersetzungen zu vermeiden.

Manchmal werden Kurtis Gefolgsleute auch verhaftet. Das kommt der Bewegung gerade recht, kann sie doch so die »Repression« durch Unmik und Kfor beklagen. Auf einem Transparent von Vetevendosje heißt es schon: »Unmik = Milosevic«.

Die radikale Rhetorik der Bewegung stößt nicht überall auf Zustimmung. »Albin Kurti ist ein Idiot«, meint Halil in einem Café in der von Jugend­lichen bevölkerten Fußgängerzone Mi­trovicas. »Wir müssen mit den Inter­na­tiona­len zusammenarbeiten. Nur so können wir die Unabhängigkeit erreichen«, erkärt der bedächtige Mann, der im Bergbaukombinat Trepca arbeitet und zu den Anhängern der gemäßigten Demokratischen Liga Kosovos (LDK) des im Februar gestorbenen langjährigen Präsidenten Ibrahim Ru­go­va zählt. »Ich persönlich habe kein Problem, mit Serben zusammenzuarbeiten«, sagt Halil und nippt an seinem Kaffee. »Aber die Unabhängigkeit müssen wir bekommen«, insistiert auch er.

Aber was passiert, wenn es doch nicht zu einer Unabhängigkeitserklä­rung kommt? Halil zuckt mit den Schul­tern. An ein solches Ergebnis der Statusverhandlungen möchte er erst gar nicht denken. Extremistische Albaner haben dagegen ein klares Rezept. Immer wieder tauchten in den vergan­genen Monaten bewaffnete Gruppen wie die ominöse Kosovo-Unabhängigkeitsarmee auf, verübten Bombenanschläge auf Unmik-Einrichtungen oder errichteten Straßensperren. Ihre unmissverständliche Botschaft lautet: »Ohne Unabhängigkeit gibt es wieder Krieg.«

Doch trotz der Drohungen extremistischer Gruppen scheint eine größere Konfrontation von Unmik und Kfor mit der albanischen Unabhängig­keitsbewegung nicht wahrscheinlich. Zwar haben Russland und China starke Bedenken gegen eine Unabhän­gig­keit des Kosovo und fürchten, dass dies Separatisten in Tschetschenien oder in Taiwan ermutigen könnte. Aber die USA und die EU haben als mächtigste politische und militärische Kräfte auf dem Balkan zu verstehen gegeben, dass es bei den Verhandlungen in Wien nur noch um die Modalitäten der Unabhän­gigkeit gehen solle.

Operativ wird die Unabhängigkeit vom UN-Verwalter des Kosovo, dem Dänen Sören Jessen-Peterson, vorbereitet. Galt nach der Militärintervention 1999 lange Zeit die Formel, erst müssten im Kosovo menschenrechtliche Stan­dards erfüllt sein, dann könne über den völkerrechtlichen Status verhandelt werden, hat Jessen-Peterson dieses Vorgehen nach den Unruhen im März vor zwei Jahren geändert.

Statt effektiv gegen die Drahtzieher der Pogrome vorzugehen, die in den Reihen der UCK-Veteranenverbände vermutet werden, übergab der Däne immer mehr polizeiliche und rechtliche Befugnisse an die kosovarische Selbstverwaltung, die von ehemaligen UCK-Kadern dominiert wird.

Zugleich brachte er durch administrative Maßnahmen die wenigen Kritiker der mangelnden Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten wie den langjährigen Kosovo-Ombudsmann Marek Novicki zum Schweigen. Dem ehemaligen Solidarnosc-Aktivisten und Vorsitzenden der renommierten International Helsinki Federa­tion of Human Rights aus Polen wurde Ende vergangenen Jahres die Weiterbeschäftigung verweigert, obwohl er die wahrscheinlich einzige UN-Institution im Kosovo leitete, die das Vertrauen von Menschen aller Natio­nalitäten erwerben konnte.

Wie zur Bestätigung seiner Kritiker fällte Jessen-Peterson mit der Einleitung der Verhandlungen in Wien einige umstrittene Personalentscheidungen. Der ehemalige UCK-Generalstabschef Agim Ceku wurde mit Jessen-Petersons Zustimmung zum Premierminister ernannt, obwohl gegen ihn ein internatio­naler Haftbefehl wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen vorlag. Der ehemalige politische Führer der UCK, Hasim Thaci, leitet die Verhandlungsdele­ga­tion in Wien, obwohl ihn der deutsche Bundesnachrichtendienst in einem teilweise bekannt gewordenen Dossier noch im Februar 2005 als wich­tigen »Key-Player« zwischen der Politik und der organisier­ten Kriminalität im Kosovo bezeichnete.

Der im selben Dokument ebenfalls schwer belastete frühere UCK-Führer im Südwesten Kosovos und spätere Premierminister, Ramush Haradinaj, wur­de auf Drängen Jessen-Petersons sogar aus der Untersuchungshaft in Den Haag entlassen und darf sich im Kosovo nun wieder frei politisch betätigen. Ein Präzedenzfall, der das Kriegsverbrechertribunal in den Augen vieler Kritiker ad absur­dum führt.

Unter den Serben gilt UN-Verwalter Jessen-Peterson mittlerweile als ge­fähr­lichster aller Feinde im Kosovo. Aber welche Strategie verfolgen die noch etwa 100 000 Serben, die im Kosovo geblieben sind? Glauben sie wirk­lich, eine Un­abhängigkeit verhindern zu können?

Im Restaurant eines Hotels in Mitrovica treffe ich Marko Jaksic, einen der zwei Vertreter der Kosovo-Serben bei den Verhandlungen in Wien. Es war nicht einfach, ihn zu einem Interview zu bewegen. Der 55jährige Arzt und Vorsitzende der Gemeinschaft der serbischen Gemeinden im Kosovo gilt als medienscheu und misstrauisch gegen­über ausländischen Journalisten.

Nach kurzer Begrüßung legt er seine zwei Mobiltelefone auf den Tisch, bestellt einen Kaffee und beginnt, mit seinem Schlüsselbund zu spielen. Wir kommen schnell zur entscheidenden Frage: Was werden die Kosovo-Serben tun, wenn die Unabhängigkeit proklamiert wird? Werden sie das Kosovo zum okkupierten Territorium erklären, wie die orthodoxe Kirche und die Serbische Radikale Partei vorschlagen?

Jaksic zögert einen Moment, dann sagt er: »Ich befürchte etwas Schlimme­res. Für den Fall der Unabhängigkeit kann ich kriegerische Auseinandersetzungen nicht ausschließen.« Und er fügt unmiss­verständlich hinzu: »Für Serbien ist das Kosovo wichtiger als die EU. Wenn wir die Wahl zwischen Europa und dem Ko­sovo haben, wählen wir das Kosovo.«

Ich erinnere mich an das Szenario, dass am Abend zuvor ein ehemaliger Bridge­watcher aus Mitrovica beim Bier in einer Kneipe entworfen hat: Wird die Unabhängigkeit des Kosovo pro­klamiert, werden auch die Kosovo-Serben ihre Unabhängigkeit erklären und den Anschluss des Nordens der Provinz, wo sie in der Mehrheit sind, an Serbien fordern. Zur Verteidigung des Territoriums werden sie bewaff­nete Freiwillige aus Serbien an die Brü­cke nach Mitrovica rufen. »Geweh­re gibt es hier genug«, sagte der junge Mann lächelnd. »Und Freiwillige auch.«