Statistik dekontaminiert

20 Jahre nach dem Reaktorunglück wird heftig über Zahl der Opfer gestritten. Fehlende Statistiken und politische Verwerfungen führen zu Schätzungen zwischen 50 und 60 000 Toten. von martin schwarz, wien

An Weihnachten wird traditionsgemäß so manche Hemmung fallengelassen. Manchmal passiert Derartiges gar auf den eher von matter Noblesse und Zurückhaltung gekennzeichneten Partys der Wiener Diplomatie. Als die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) die akkreditierten Journalisten des Wiener Uno-Hauptquartiers im vergangenen Jahr zu ihrer Weihnachtsparty einlud, war die Stimmung wieder ausgezeichnet: Die Presseabteilung hatte ganz besonders gute Laune, weil die Organisation drei Monate zuvor den Friedensnobelpreis erhalten hatte. Das und einige Gläser Rotwein lockerten die Zunge der Pressesprecher. »Es war ein großes Risiko, das zu tun, aber es war nötig«, erklärte etwa Melissa Fleming, Sprecherin der IAEA, in kleinem Kreis und meinte damit jenen Bericht der Behörde, der einige Monate zuvor heftigen Protest von Umweltorganisationen ausgelöst hatte.

Im September 2005 veröffentlichte die IAEA gemeinsam mit der Weltgesundheitsorganisation WHO und einigen anderen Uno-Organisationen einen Bericht, der das Reaktorunglück von Tschernobyl vom Super-Gau zu einem kleinen, technischen Ausrutscher degradierte. Nicht mehr Tausende von Toten wurden da beklagt, sondern lediglich ein paar Dutzend. »Neun Kinder und 50 Bergungsarbeiter« seien unmittelbar nach der gewaltigen Explosion tödlich verstrahlt worden. Insgesamt werten die Wissenschafter die Folgen von Tschernobyl für die psychische Gesundheit als »das größte öffentliche Gesundheitsproblem, das vom Unfall verursacht wurde«. Tschernobyl also war da plötzlich nicht mehr als ein psycho­somatisches Wehwehchen der Betroffenen. Rund 100 Wissenschaftler hatten an jenem knapp 600 Seiten umfassenden Bericht mitgearbeitet, der unter großer Anteilnahme der Medien veröffentlicht wurde.

»Die Leute dort denken, dass sie ohnehin sterben, also führen sie auch einen ungesunden Lebens­wandel und rauchen und trinken«, sagt etwa Kalman Mizsei, einer der Autoren der Studie und Beamter des Uno-Entwicklungsprogramms UNDP. Auch die 30-Kilometer-Sperrzone rund um den beschädigten Reaktor halten die Uno-Experten in dem Bericht mittlerweile für unnötig und für zu kostspielig. Die Evakuierungen sollten zurückgenommen werden, ein gesundheitliches Risiko bestehe nicht mehr. Für überzogen halten die Autoren des Berichtes auch die staatlichen Unterstützungen für die vermeintlichen Opfer des ebenso vermeintlichen Desasters: Fünf bis sieben Millionen Menschen erhalten heute noch in der Ukraine, Russland und Belorussland staatliche Unterstützung. »Diese Menschen werden in Abhängigkeit gehalten«, sagt Miszei. »Das ist bei so wenigen Todesopfern nicht gerechtfertigt.«

Alleine Belorussland gibt sechs Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für die Unterstützung der Tschernobyl-Opfer aus, unmittelbar nach dem Unfall waren es mehr als 15 Prozent. Den Grund für die angebliche Unnötigkeit der Fürsorge sehen die Wissenschaftler darin, dass sich »rund um Tschernobyl eine ganze Industrie gebildet hat, deren Geschäftsgrundlage der Unfall ist«, wie Miz­sei sagt.

Umweltorganisationen jedenfalls halten die Enthüllungen der Atomenergiebehörde für einen propagandistischen Super-Gau. Insbesondere die in der Angelegenheit der Forschung praktizierte Fusion zwischen der IAEA und der Weltgesundheitsorganisation WHO, die beide für den Bericht verantwortlich zeichnen, lässt bei den Umweltaktivisten Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Enthüllungen aufkommen: Ist das vielleicht der Versuch, die Atomindustrie historisch zu dekontaminieren?

Der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Berichtes kann kein Zufall sein, mutmaßen einige und glauben dabei nicht, dass es bloß der 20. Jahrestag der Katastrophe ist, der die Wissenschaftler dazu bewogen haben könnte, ihre Ergebnisse zu publizieren. Angesichts des steigenden Ölpreises und der Unsicherheit über russische Gaslieferungen hat sich die Atomkraft wie selbstverständlich einen Platz in der Reihe echter Alternativenergien wie Solar und Windkraft erobert. Da ist es nicht weiter verwunderlich, wenn die Atomlobby alles tut, um die größte Pleite der Branche, nämlich Tschernobyl, etwas zu verharmlosen. Eine andere Frage allerdings ist, ob die IAEA tatsächlich zu dieser Lobby gehört.

Immerhin hat die Atomenergiebehörde in Wien neben ihrer Aufgabe, die Proliferation von Kernwaffen zu stoppen, zugleich den politischen Auftrag, den »friedlichen Ausbau der Kernenergie« zu fördern. Was läge also näher, als den einzigen wirklich großen Unfall mit dieser Technologie medienwirksam zu einem kleinen Ausrutscher in der Geschichte der Atomenergie umzuinterpretieren? Ein Sprecher der Organisation »Internationale Vereinigung der Ärzte gegen den Atomkrieg« (IPPNW) prangerte eben diese Verbindung zwischen der IAEA und der WHO an. Außerdem seien einige der dargestellten Fakten »nachweislich falsch«. Greenpeace-Atomexperte Thomas Breuer sprach von einer »Verharmlosung der Reaktorkatastrophe, die dem Fass den Boden ausschlägt«.

Umweltschutzorganisationen jedenfalls beharren trotz des Ehrfurcht gebietenden Aufgebotes von über 100 Wissenschaftlern, die an dem IAEA-Bericht mitgeschrieben haben, auf der historischen Dimension des Unfalls im Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks von Tschernobyl: Die deutsche Gesellschaft für Strahlenschutz vermutet zum 20. Jahrestag rund 50 000 Tote und erwartet weitere 250 000 Krebstote infolge von Tschernobyl. Die Organisation der rund 800 000 »Liquidatoren«, die Wochen und Monate nach dem Unfall damit beschäftigt waren, die Umgebung zu dekontaminieren und die Bewohner der Umgebung zu evakuieren, vermutet alleine in ihren Reihen rund 60 000 Todesopfer.

Fragwürdig ist aber die gesamte Diskussion alleine schon wegen der Unschlüssigkeit darüber, was nun als Folge von Tschernobyl zu interpretieren ist. Welche Krankheit hat unter welchen Umständen direkt mit den Ereignissen vom 26. April 1986 zu tun und welche nicht? Darüber gibt es auch heute noch keine verbindlichen Untersuchungen.

Und letztlich sind es auch die politischen Verwerfungen in der ehemaligen Sowjetunion, die für Statistiker und Gesundheitsexperten ein Problem darstellen: Was 1986 die Sowjetunion war, ist heute Russland, die Ukraine, Belorussland. Die Liquidatoren, die 1986 von der sowjetischen Regierung zum Putzen und Aufräumen abkommandiert worden sind, leben heute verstreut in beinahe allen Nachfolgestaaten des untergegangenen Reiches. Die Statistiken über Opferzahlen und Strahlendosen von damals sind heute schlicht nicht mehr auffindbar.