Das Unbehagen an der Psychoanalyse

Alfred Adler oder die Aussichtslosigkeit der linken Versuche, Freuds pessimistischen Befund von der Unvollkommenheit des Menschen zu revidieren. von tjark kunstreich

Angesichts der in linken und feministischen Kreisen verbreiteten Ablehnung der Freudschen Theorie und Behandlungsart ist es erstaunlich, wie hartnäckig sich die Legende einer Synthese von Marxismus und Psychoanalyse halten konn­te. Sie ist, zum Glück für beide, ein frommer Wunsch geblieben, auch wenn mancher marxistische Psychoanalytiker und mancher psychoanalytische Marxist sich ihr Leben lang daran abgearbeitet haben. Es gab allerdings eine Zeit, in der gesellschafts­ver­ändern­des Handeln möglich schien und in der viele Linke sich von den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen Hinweise auf die Richtung von Erziehung, Bildung und Lebensweise erhofften. Zu diesen Erkenntnissen gehörte die Arbeit Sigmund Freuds.

Allerdings wurden dessen Befunde jeweils so verstanden, wie sie gebraucht wurden. Was nicht nützlich erschien, wurde weggelassen. Im Kern ging es in den verschiedenen Phasen der Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Psychoanalyse um die Frage, wie nützlich die Psychoanalyse dem revolutionären Ziel sein kann und will. Könnte die Psychoanalyse die Psychologie des »wissen­schaftlichen Sozialismus« sein, will sie sich dem geschichtlichen Zug zum Sozialismus anschließen? Nachdem dieser Zug abgefahren war, ging auch der gemeinsame Bezugspunkt verloren: der Fortschritt. So, wie sich die Linke auffächerte und fraktionierte, formierten sich auch in der Psychoanalyse Schulen, die jeweils ihre eigene Revision der Freudschen Theorie entwickelten.

Den verschiedenen Etappen der linken Beschäftigung mit der Psychoanalyse wohnt ein Wiederholungszwang inne. Seit über einem Jahrhundert geht es immer um die gleichen The­men: das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, die Triebtheorie, die infantile Sexualität, das Lustprinzip, die Stellung der Frau. All dies findet sich bereits in Alfred Adlers Auseinandersetzung mit Freud vom Anfang des vorigen Jahrhunderts.

Adler stieß im Jahr 1902 zum Kreis um Freud und war der erste Vorsitzende der acht Jahre darauf gegründeten Wiener Psy­choanalytischen Vereinigung, brach aber kurz darauf mit Freud. Im Streit mit ihm entwickelte Adler eine eigene Tiefenpsychologie, deren Termini bis heute geläufig sind: Minderwertigkeitskomplex, Gemeinschafts­gefühl, Lebensstil. Nicht Sexualität, sondern Geltungs­streben sei der Antrieb menschlichen Lebens, das Individuum sei ein Wesen, weder ge­be es das Unbewusste noch die Instan­zen Ich, Es und Über-Ich. Im Ödipuskomplex sah Adler »männlichen Protest« am Werke, nicht infantile Aggres­sion und Sexualität. Die Neurose sei eine Anpassungsstörung, ausgelöst durch Geltungsstreben und Minderwertigkeitsgefühle, psychisches Leid sei Resultat der Unfähigkeit des Individuums, seine Lebensleitlinien, die Vor­stellung des Kindes von seinem Erwachsenenleben, zu verwirklichen.

In Adlers Therapie sitzen sich Therapeut und Patient gegenüber, die freie Assoziation wird durch das Gespräch ersetzt. Der Therapeut hat ein Ziel, nämlich dem Patienten verständ­lich zu machen, dass er ein Individuum ist und soziale, familiäre und politische Umstände nur so weit eine Rolle spielen, wie der Patient ihnen Einfluss gewährt. Er kann sich für die Freiheit entscheiden, die jedoch verbunden ist mit der Übernahme von Verantwortung für die Gemeinschaft.

Der Optimismus der Adlerschen Individualpsychologie war ein Resultat der Fortschrittszuversicht der österreichischen Sozialdemokratie und der Grund für seinen zeitweiligen Erfolg in den USA. Er passte nicht in die psychoanalytische Skepsis, die die im Inneren des Individuums wirkenden, dynamischen Kon­flikte nicht lösen konnte und wollte, sondern in ihnen die dem Individuum jeweils mögliche Form ihrer Ver­arbeitung sieht. Adler kritisierte die Freudsche Behandlungstechnik im Bild vom liegenden Analysanden und dem sitzenden Analytiker als hierarchisch und patriarchal. Seine Alternative ist der The­rapeut, der schon weiß, worum es geht, und seinem Patienten erklärt, worin dessen Lebensplan besteht. Hierarchisch ist dieses Verfahren allemal, ihr suggestiver Charakter, den viele heutige Therapieschulen übernommen haben, hat nicht den Einzelnen im Blick, sondern seine Nützlichkeit für die Gesellschaft.

Die Vorstellung von seelischer Gesundheit macht den Bruch zwischen Adler und der Freudschen Theorie aus. Der Freudschen Psychoanalyse ist das Individuum Re­sultat miteinander verwobener innerpsychischer Kon­flikte und gesellschaftlicher Zu­richtungen, in deren Mittelpunkt die Trie­be und deren Unterdrückung stehen. »Wenn Sie fragen, woher kommt die Ver­drän­gung, so bekommen Sie die Antwort: Von der Kultur. Wenn Sie aber dann fragen, woher kommt die Kultur?, so antwortet man Ihnen: Von der Verdrängung. Sie sehen also, es handelt sich nur um ein Spiel mit Worten«, meinte Adler. Freud antwortete: »Es ist nichts anderes dahinter, als dass die Kultur auf den Verdrängungs­leistungen früherer Generationen beruht, und dass jede neue Generation aufgefordert wird, diese Kultur durch Vollziehung derselben Verdrängungen aufrechtzuerhalten.«

Das individuelle Unglück kann nicht geheilt, es kann im Prozess von »Erinnern, Wie­derholen, Durcharbeiten« bewusst gemacht und vielleicht dadurch vielleicht verringert werden. »Die Freudsche Psychoanalyse erlaubt es nicht, den Riss in der Conditio humana zu kitten«, schreiben die französischen Analytiker Béla Grunberger und Janine Chasseguet-Smirgel in ihrer Abrechnung mit Wilhelm Reich und seinen Adepten, in diesem Fall Gilles Deleuze und Felix Guattari. »Sie hat erkannt, dass die Abhängigkeit des Menschen von seinen Objekten, der Ödipuskomplex, die Differenzierung des psychischen Apparats (Ich und Über-Ich als Abkömmlinge des Es) einer grenzenlosen Befriedigung seines Begehrens im Wege stehen, ganz im Gegensatz zu den Proklamationen des Anti-Ödipus, der ›das Blaue vom Himmel‹ verspricht.« In der Freud­schen Tradition wird Psychoanalyse als Ideologiekritik verstanden, Ideologie als Illusion gedeutet, mit der eine Kränkung vermieden oder ausgeglichen werden soll, die der narzisstischen Omnipotenzphantasie ihre Grenze setzt.

Letztlich seien alle Versuche, die Freud­sche Psychoanalyse welcher Illusion auch immer unterzuordnen, dem infantilen Widerstand gegen die narzisstische Kränkung oder dem Wunsch nach Rückkehr in den Urzustand, in die Auflösung von Ich und Nicht-Ich zu verdanken, meinen Grunberger und Chasseguet-Smirgel. »In ›Aden Arabie‹ sagt Paul Nizan: ›Wenn der Mensch voll­kommen und frei ist, wird er nachts nicht mehr träumen.‹ Mit anderen Wor­ten: Dann ist die Zeit der Erfüllung aller Wünsche gekommen. In den Augen der Psychoanalyse wird der Wunsch des Menschen, seine Unvollkommenheit also, nicht vergehen. Das ewige Los der Menschheit ist der Traum.«

Dieses Los schließt den gesellschaftlichen Fortschritt aber nicht aus, wie Freud in »Zu­kunft einer Illusion« anmerkt: »Wenn aber eine Kultur es nicht darüber hinaus gebracht hat, dass die Befriedigung einer Anzahl von Teilnehmern die Unterdrückung einer anderen, vielleicht der Mehrzahl, zur Voraussetzung hat, und dies ist bei allen gegenwärtigen Kulturen der Fall, so ist es begreiflich, dass diese Unterdrückten eine intensive Feindseligkeit gegen die Kultur entwickeln. (…) Es braucht nicht gesagt zu werden, dass eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt lässt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient.«