Der Abschaum von Leipzig

Ist Clemens Meyers Debütroman »Als wir träumten« wirklich die literarische Sensation des Frühlings, wie alle behaupten? Nicht ganz, meint jörg sundermeier

Man ist vor einem Buch gewarnt, wenn einem vom Verlag gleich zweimal Sten-Nadolny-Zitate hingeworfen werden, auf der Klappe und auf dem Rückendeckel. Und wenn Nadolny dann auch noch mit großväterlicher Herablassung schreibt: »Selbstverständlich ist Meyer viel zu jung. Aber so ist das mit guten Schriftstellern, sie tauchen plötzlich auf, und die ergrauten Kollegen kratzen sich am Kopf: Wieso kann der eigentlich so viel?«, dann fragt man sich, ob man in diesem Buch lesen mag.

Doch der Roman »Als wir träum­ten« lohnt sich, wenngleich er viele kleine Mankos hat. Clemens Meyer ist Absolvent des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig, »Als wir träumten« war seine Abschlussarbeit, mit dem ersten Kapitel hat er bereits einen renommierten Kurzgeschichtenpreis gewonnen. Absolventen des DLL, so geht das Gerücht im Feuilleton, kommen ja bekanntlich sofort im Literaturbetrieb an und unter. Dass dies nicht stimmt, beweist das Heer jener Absolventinnen und Absolventen, die mit ihren Manu­skripten von Krethi zu Plethi laufen und, nicht weil sie schlecht sind, sondern weil sie keinen Roman, also nichts Marktförmiges, geschrieben haben, nirgends eine Chance zur Veröffentlichung finden.

Meyer hingegen hat alles richtig gemacht, mag man meinen. Doch bis vor kurzem war er sich seines Erfolgs nicht sicher. »Da ich über vier Jahre an dem Buch geschrieben habe, brauche ich erst einmal ein bisschen Zeit, um mich auf neue (Roman-)Projekte vorzubereiten. Natürlich schaue ich auch, ob ich im Lektoratswesen oder bei Zeitungen anfangen kann, aber das ist bei der Marktlage fast aussichtslos«, sagte er dem MDR.

Nun wurde aber »Als wir träumten« von der gesamten Presse gelobt, war nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2006 und galt bei vielen als Favorit für den Preis, den er dann aber nicht gewann. Der Verlag kann beruhigt nachdrucken, die Verkäufe sind befriedigend, die Lesungen gut besucht. Es scheint also, als hätte Leipzig eines seiner weiteren »Literaturwunder« vollbracht. Doch verhält es sich bei diesem Roman anders als sonst üblich.

Zum einen muss man sich wundern, warum auch diejenigen Rezensentinnen und Rezensenten, die normalerweise nicht kopflos schreiben, so hingerissen sind. Sie erblicken in dem Buch, das in einem Zeitraum von Mitte der achtziger Jahre bis Anfang der neunziger Jahre spielt, den lange ersehnten Wenderoman. Dabei übersehen sie gern einige formale Mängel des Buchs.

Denn zum einen hat Meyer noch keinen eigenen Stil gefunden, zu nahe ist er an seinen amerikanischen Vorbildern wie etwa Hemingway, wenn er dessen Dialogtechnik übernimmt, zum anderen verfällt er manchmal in eine klassische Abenteuerromanerzählweise. Er schreibt umgangssprachlich, wenn er seine Figuren reden lässt, doch alle haben denselben Ton, kaum eine Figur hat Eigenheiten in ihrer Rede, Jugendliche wie alte Männer benutzen gleiche Wendungen. Manche Wiederholungen von Bildern sind offensichtlich keiner stilistischen Eigenheit geschuldet, sondern eher einem unaufmerksamen Lektorat. Auch nehmen die Protagonisten des Romans an zu vielen Ereignissen teil, an dem Beschuss der BFC-Hools durch die Volkspolizei, an den Montagsdemonstrationen, an der entstehenden Technoszene, und immer sind sie vorneweg. »Wessis« allerdings fehlen im Buch, nicht mal als Feindbild sind sie anwesend. Meyer scheint sie vergessen zu haben. Das alles sind normale, kleinere Debütantenfehler, dennoch sieht man staunend, dass dem Autor durchweg konstatiert wird, ein »großartiges Buch« (FR) geschrieben beziehungsweise einen »großartigen Talentbeweis« (Die Zeit) erbracht zu haben.

Alle jugendlichen Hauptfiguren des Romans, also die »Brüder« Rico, Walter, Mark, Stefan, Paul und Daniel, sind, bei allem »Mist«, den sie machen, doch ein bisschen anständig, sie helfen der alten Frau, die sie bestehlen (täten sie’s nicht, täten’s andere, unfreundlichere), sie schlagen die Schläger von Frauen, sie sind hart, brutal, aber dabei stets einigermaßen fair, und sie lieben einander, hassen allerdings Schwule.

Sie bilden einen jugendlichen Männerbund in einer – in ihrer Wahrnehmung – fiesen, feindlichen Welt. Die Frauenfiguren im Roman sind dementsprechend angelegt. Sie sind entweder Mutter, und damit Opfer und Dulderin, deren einzige Waffe psychologischer Druck ist, oder sie sind zugleich Engel und Hure. Die Pionie­rin Katja, die der Ich-Erzähler Daniel, genannt Danie, liebt, haut, nachdem sie stets der DDR gehuldigt hat, abschiedslos mit ihren Eltern in den Westen ab. Estrellita, auch Sternchen oder Sterntaler genannt, geht mit allen, auch mit den Nazis, die ihre Freunde verprügeln, ins Bett und schließlich anschaffen. Dabei aber bleibt sie auch immer irgendwie »rein«, lange Zeit zumindest.

Allerdings ist es eben ein Ich-Erzähler, der erzählt, und er ist Angehöriger dieses Män­nerbundes. Er lügt, wie der Roman des Öfteren betont, er irrt sich, erfindet Ereignisse, um die Erzählung dramatischer zu gestalten, und er steht, bei aller Feindschaft, den Rechten näher als den »Zecken«.

Man darf Daniel nicht trauen – im ersten Kapitel wird eine Spur gelegt, die auf einen Anstaltsaufenthalt Daniels hinweist, denn er wird gezwungen zu einem »Doktor Beichtvater« zu gehen. Dieser Faden wird allerdings – wie manche andere im Buch – nicht wieder aufgenommen, wo Daniel am Ende der Geschichte ist, von wo aus er erzählt, das bleibt im Dunkeln.

Und es interessiert auch nicht weiter. Durch die lügenhafte Erzählung dieses oft naiven Jungen und durch die nicht-chronologische, sprunghafte Anlage erlangt der Roman erst seine Güte. Das gibt dem Buch eine Mehrdeutigkeit, die Verfängliches offenbart – der Blick auf die »Zecken« etwa, deren andersartige Lebens- und Kleidungsweise den »Brüdern« Angst macht, oder der Umgang mit Pornos, für die sie zu naiv sind, da sie im Geschlechtsverkehr weniger Befriedigung suchen als vielmehr Leistungsbeweise.

Die »Brüder« klauen, brechen den Hausfrieden, schlagen ihre Väter, verprügeln Fremde, saufen wie die Löcher, knacken Autos und fahren sie zu Bruch, eröffnen eine Disco und fressen Pillen, schnupfen und spritzen, bald sind zwei von ihnen tot, einer ist Dealer, alle sind mal im Knast, einer ist Pornofanatiker, und alle sind im Eimer.

»Als wir träumten« ist eine Geschichte von Opfern. Daniel, Mark, Rico und all die anderen sind Kinder von Arbeitern oder Offizieren, sie leben am Stadtrand von Leipzig, in einem Proletenviertel, um sie herum gibt es schon zu DDR-Zeiten nur Säufer und anderweitig Beschädigte. In der Schule dagegen herrscht ein Zwangssystem. Nach dem Mauerfall wird das nicht anders, nur ist der alten, halbwegs funktionierenden Ordnung eine gefolgt, die die Kids nicht verstehen. Sie gehören zum Abschaum.

Diese Opfer allerdings sind Opfer ihrer eigenen Untätigkeit. Sie sind Kiezaktivisten, »Brüder« eben, da sie denken, sich gegenseitig helfen zu müssen, denkt niemand an sich. Ebenso wenig sind sie in der Lage, Beziehungen außerhalb ihrer Bruderschaft aufzubauen. Wie solche Bruderschaften funktionieren, schildert der 1977 in Halle geborene Meyer en detail. Und das macht »Als wir träumten« so bemerkenswert. Ein »großer realistischer Erzähler«, wie es die Feuilletons behaupten, ist Meyer jedoch noch nicht.