Evo Morales bittet zur Kasse

Die Verstaatlichung der Erdgasvorkommen wird von vielen Bolivianern als Akt der nationalen Souveränität wahrgenommen. Auch die Oligarchie des Landes sieht sich nicht dazu veranlasst, ihre Koffer zu packen. von simón ramírez voltaire

Ein bisschen mulmig wird es Inés Soruco schon, wenn sie in die Zeitung schaut. Was sie dort zu lesen bekommt, kündigt merkliche Veränderungen an. Seit dem 1. Mai dreht sich alles um das »besondere Geschenk«, das Präsident Evo Morales den Arbeitern an ihrem Feiertag bereitete. Per Dekret verstaatlichte er die bolivianischen Erdgas- und Ölvorkommen. Damit löste der Vorsitzende der »Bewegung zum Sozialismus« und ehemalige Kokabauer ein Wahlversprechen ein. Die Verstaatlichung des Erdgases war die zentrale Forderung bei den vielen Protesten, Streiks und Straßenblockaden, die das Land seit sechs Jahren in Atem hielten und Morales ins Amt brachten.

Die Befürworter der Verstaatlichung hoffen, dass der Staat durch die Kontrolle der Gasexporte zusätzliche Einnahmen erhält, die er in soziale Maßnahmen investieren kann. In dem Land, in dem rund zwei Drittel als Indígenas gelten, hat die Verstaatlichung zudem einen großen symbolischen Wert. Die Rückeroberung der natürlichen Ressourcen gilt als Wiedergewinnung der nationalen Souveränität gegenüber den internationalen Investoren, in erster Linie dem spanischen Konzern Repsol und dem brasilianischen Konzern Petrobrás.

Inés, eine junge Anwältin in La Paz, hält die Verstaatlichung für richtig. Dabei sei die Maßnahme relativ harmlos, denn »es wurde niemand enteignet, sondern der Staat will nur mehr Kontrolle über den Erdgassektor gewinnen«, sagt sie. Bedeutender sei es, dass Morales Stück für Stück die Verhältnisse umkrem­pele, in denen es sich die Elite des Landes eingerichtet hätte.

Eine »schleichende Revolution« sei im Gange, die in ihrer Schicht für Ängste sorge, berichtet Inés, die aus einer angesehenen weißen Familie stammt, aus einer der großen, wohlhabenden Familien also, die bislang das Sagen hatten. Ihre Angehörigen verteilten sich über alle traditionellen Parteien, einige waren bei der alteingesessenen MNR, andere bei der rechten ADN, wieder andere bei der sozialdemokratischen MIR. Sogar die linke MBL gehörte zum System. »So war es im Prinzip völlig egal, welche Partei gerade an der Macht war«, sagt Inés. Der traditionelle Klientelismus habe dafür gesorgt, dass stets alle einflussreichen Familien mit Posten und Geld versorgt wurden.

Viele Angehörige der Elite seien keine »echten Unternehmer« oder Politiker, sondern Leute, die vom Staat lebten, von den gut bezahlten Posten, die ihnen der Schwager, der Onkel oder der Schwiegervater besorge. Mit Morales sei eine andere soziale Gruppe an die Macht gekommen. Tatsächlich reduzierte »Evo« alle öffentlichen Gehälter um die Hälfte, deckte Korruptionsfälle auf, entließ Generäle, die versucht hatten, Waffen außer Landes zu bringen, und zitierte Unternehmer zu Anhörungen in Steuerverfahren. Bei alledem handle es sich um Versuche, aus einem desolaten Land einen Rechtsstaat zu machen, meint Inés. Denjenigen, die sich jahrzehntelang am Staat bereicherten, gehe es an die Privilegien.

Um das Eigentum ihrer Konzerne besorgt zeigte sich in der vergangenen Woche auch manch ausländische Regierung. Der spanische Ministerpräsident José Zapatero schickte eine Delegation nach Bolivien. Sein Staatssekretär für Außenpolitik, Bernardino León, sollte sich aus der Nähe anschauen, was die Regierung in Madrid so verstörte: Mit weißem Schutzhelm durchschritt Morales Erdgasfelder, ließ sich mit der bolivianischen Flagge vor Förderanlagen fotografieren und postierte Soldaten. Im ganzen Land wurden 56 Anlagen besetzt, um zu verhindern, dass die Eigentümer die Geräte und Maschinen aus dem Land schaffen.

Alles halb so schlimm, konnte León aus Bolivien melden. Was auf den ersten Blick wie eine klassische Enteignung erscheint, ist in Wirklichkeit eine Verstaatlichung light. Denn der bolivianische Staat konfiszierte weder die technische Infrastruktur noch die Vermögenswerte der Investoren, sondern erlangte bloß die Kontrolle über die Erdgasförderung. Somit zwingt er die internationalen Investoren dazu, über neue Verträge zu verhandeln. Rechtssicherheit, Eigentum und künftige Profite wurden ihnen aber garantiert. Lediglich die Abgaben an den Staat sollen erhöht werden. Ausländische Förderkonzerne sollen künftig nur noch 18 anstatt 50 Prozent der Erlöse mitnehmen dürfen.

Die Unternehmen haben 180 Tage Zeit, um mit der Regierung neue Verträge zu vereinbaren, die dann dem Parlament zur Entscheidung vorgelegt werden sollen. Was als Verstaatlichung deklariert wurde, erweist sich als eine erzwungene Neuverhandlung über die Erdgaskonzessionen. Die alten Verträge, die unter der Regierung von Gonzalo Sánchez de Lozada abgeschlossen wurden und die die Opposition als illegal betrachtete, weil sie nicht, wie es die Verfassung vorschreibt, vom Parlament gebilligt wurden, sind außer Kraft gesetzt. Morales selbst bewertet diese Maßnahme als »historisches Ende der Ausplünderung des Landes«.

Das spanisch-argentinische Konsortium Repsol-YPF, das rund eine Milliarde Dollar in Bolivien investiert hat, gab bereits zu erkennen, dass es sich den neuen Bedingungen fügen werde, ebenso der staatliche brasilianische Energiekonzern Petrobrás, der 1,5 Milliarden investiert hat und etwa die Hälfte der bolivianischen Erdgasproduktion in Bolivien kontrolliert.

Während die Maßnahme der bolivianischen Regierung sich kaum auf die globalen Energiemärkte auswirken dürfte – der Anteil Boliviens an den weltweiten Erdgasvorkommen beträgt gerade einmal ein halbes Prozent –, dürfte sie in Lateinamerika größere Folgen haben. Auf dem eilig einberufenen Energiegipfel garantierte Bolivien deshalb in der vorigen Woche, die Großabnehmer Brasilien und Argentinien weiter zu versorgen und sich am Bau einer Erdgaspipeline von Venezuela nach Argentinien zu beteiligen. Dafür akzeptierten Argentinien und Brasilien höhere Preise. Damit hat die »Achse des Guten«, wie Morales das Bündnis der linken Regierungen in Südamerika einmal nannte, Bolivien einen Vorteil auf dem regionalen Energiemarkt verschafft.

Zusätzliche Hilfe kommt von den neuen Partnern Venezuela und Kuba. Venezuela will mit 130 Millionen US-Dollar die Produktivität steigern, die Armut bekämpfen und 5 000 Stipendien zur Ausbildung von Gesundheitsarbeitern und tausend weiteren Stundenten spendieren. Außerdem will man mit anderthalb Millionen Dollar rund hundert regionale Radiosender aufbauen. Kuba hat bereits 700 Ärzte für kostenlose medizinische Versorgung entsandt und zwanzig ländliche Krankenstationen mit Personal und Geräten ausgerüstet. Hinzu kommen 140 Experten und 30 000 Videosysteme für die gerade begonnene Kampagne zur Alphabetisierung. Außerdem sollen bald 5 000 Bolivianer kostenlos auf Kuba studieren.

Die Verstaatlichung des Erdgases nehme die weiße Ober- und Mittelschicht einigermaßen gelassen hin, hat Inés beobachtet. Vor allem linksliberale Intellektuelle begrüßten sie sogar. Denn das Gefühl, von Konzernen und fremden Regierungen abhängig zu sein und von ihnen bevormundet zu werden, teilen in Bolivien viele. Unsicherheit herrsche eher über die Frage, was die Regierung als nächstes unternehmen werde. »Das ist die Machtdemons­tration einer Schicht, die bislang vom System ausgegrenzt war. Im Osten des Landes fürchten die Großgrundbesitzer, der nächste Schritt könnte die Enteignung ihrer Ländereien sein«, sagt Inés.