Ein Traum in Orange

Eine Hommage an den dreimaligen Weltmeister Niederlande. von alex feuerherdt

Rinus Michels war verstimmt. »I forgot my German«, begründete er auf einer Pressekonferenz vor dem WM-Finale 1974 gegenüber deutschen Sport­journalisten seinen Entschluss, Fragen grund­sätzlich nicht mehr in der Sprache des Gast­geberlandes zu beantworten. »Wenn die deutschen Zeitungen einen Krieg heraufbeschwören wollen, dann ist es auch ein totaler Krieg«, fügte er noch auf Niederländisch hinzu.

Was den Bondscoach so erregte, war eine Story der Bild-Zeitung, die unter der Überschrift »­Cruyff, Champagner und nackte Mädchen« das Gerücht lanciert hatte, die niederländischen Auswahlspieler vergnügten sich im Swimmingpool ihres Hiltruper Hotels mit Prostituierten. Diese Geschichte sollte unter den Oranjes für Unruhe vor dem alles entscheidenden Spiel der Weltmeisterschaft in Deutschland sorgen. Bis dahin hatte die niederländische Fußballmannschaft alles in Grund und Boden gespielt, vor allem in der Finalrunde, die sie nach glanzvollen Siegen gegen Argentinien (4:0), die DDR (2:0) und Brasilien (2:0) mit einer makellosen Bilanz von 8:0 Toren und 6:0 Punkten beendete. Die Cruyffs, Neeskens und Reps zelebrierten Zauberfußball und waren auch im Endspiel klarer Favorit. Da musste das auflagenstärkste Boulevardblatt also schon schwere Geschütze auffahren.

Doch die Gäste zeigten sich unbeeindruckt und legten vehement los: 0:1 hieß es nach nicht einmal zwei Minuten. Johan Cruyff war zu schnell für den Münchner Uli Hoeneß, weshalb dieser sich nur durch ein Foul im Strafraum zu behelfen wusste; Johan Neeskens verwandelte den fälligen Elfmeter. Auf der Gegenseite gab es jedoch ebenfalls einen Strafstoß, nachdem es Bernd Hölzenbein gelungen war, den Schiedsrichter mit einer Schwal­be zu täuschen. Paul Breitner traf zum Ausgleich. Kurz vor der Halbzeit wäre Gerd Müller sogar fast die Führung für die Deutschen gelungen, aber Torwart Jan Jongbloed parierte seinen Drehschuss reaktionsschnell. In der zweiten Hälfte reihte sich Chance an Chance für Rinus Michels’ Mannschaft, und fast mit dem Schlusspfiff gelang Johan Cruyff endlich der erlösende Siegtreffer. Die Niederlande waren erstmals Weltmeister – ein verdienter Triumph der Kunst über Kampf und Krampf.

Vier Jahre später stand das Unternehmen Titelverteidigung an, diesmal in Argentinien. Dort hatte sich zwei Jahre zuvor eine brutale Militärjunta an die Macht geputscht, die Tausende von politischen Gegnern folterte und ermordete. In den Niederlanden wurde daraufhin intensiv darüber diskutiert, ob man die Weltmeisterschaft nicht besser boykottieren sollte.

In der Bundesrepublik gab es eine solche Debatte nicht; der damalige Präsident des Deutschen Fußballbundes (DFB), Hermann Neuberger, fand vielmehr, der Putsch habe »eine Wende zum Besseren« herbeigeführt, und konstatierte: »Die Leute dort werden ab und zu nur mal wieder wachgerüttelt in Richtung gesundem Demokratieempfinden, wenn sie vorher vom Weg abgekommen sind.« Zur Untermauerung seiner Ansichten lud Neuberger Hitlers Lieblingssturzkampfflieger Hans-Ulrich Rudel ins deutsche Trainingslager nach Ascochinga ein. Aber auch der konnte nicht verhindern, dass der österreichische Reporter Edi Finger »ganz narrisch« wurde, als sein Landsmann Hans Krankl zum 3:2 einschoss und den Deutschen die »Schmach von Cordoba« bereitete.

Das niederländische Team entschied sich schließlich doch noch, nach Argentinien zu fahren, dort allerdings jeden Kontakt zur Junta zu vermeiden. In der Vorrunde lief es für die Oranjes noch etwas holprig, aber die Finalrunde beendeten sie mit Platz eins – nach Siegen gegen Österreich (5:1) und Italien (2:1) sowie der Verhinderung der Revanche für 1974: Die zweimalige deutsche Führung durch Rüdiger Abramczik und Dieter Müller glichen Arie Haan und René van de Kerckhof jeweils aus. Erneut maßen sich die Niederlande im Endspiel dann mit dem Gastgeberland – und durften nach einem hart erkämpften 3:1 nach Verlängerung den Pokal für vier weitere Jahre behalten. Anschließend blieben sie der von General Videla organisierten offiziellen Siegesfeier demonstrativ fern.

Nach diesen fetten Jahren für den niederländischen Fußball folgten zehn eher magere – bis zum nächsten Turnier beim Nachbarn in Deutschland, der Europameisterschaft 1988. Und wie es der Zufall respektive der Fußballgott wollte, war das Halbfinale gewissermaßen eine Neuauflage des Endspiels 14 Jahre zuvor. Im Hamburger Volks­parkstadion hoffte die Mehrheit der 61 000 Zuschauer auf eine Revanche, und als Lothar Matthäus die Deutschen nach 55 Minuten per Elfmeter in Führung brachte, sah es zumindest danach aus. Doch wie schon im Finale 1974 gab es auch in diesem Match einen zweiten Strafstoß; den niederländischen verwandelte Ronald Koeman zwanzig Minuten später. Und kurz vor dem Abpfiff bescherte Marco van Basten seinem Gegenspieler Jürgen Kohler einen Moment, von dem er wohl heute noch schlecht träumt. Michels’ Männer gewannen die Partie einmal mehr mit 2:1 und schlugen im Endspiel die Sowjetunion nach Toren von Gullit und van Basten mit 2:0.

Nach dem Halbfinale gegen die Bundesrepublik trug sich noch eine Szene zu, die für Tumulte auf den Zuschauerrängen sorg­te: Ronald Koeman zog sich ein ertauschtes deutsches Trikot durch den Schritt. Es war übrigens mitnichten, wie gemeinhin geglaubt wird, das Leibchen von Olaf Thon, das hier demonstrativ zweckentfremdet wur­de, sondern das von Lothar Matthäus, der ein paar Jahre später auf dem Oktoberfest einem Niederländer mit den Worten: »Dich haben sie wohl beim Adolf vergessen zu vergasen«, die deut­sche Gastfreundschaft näher brachte. Man kann also wohl mit Fug und Recht von einer präventiven antifaschistischen Aktion Koemans sprechen.

Nur zwei Jahre später, beim Weltturnier in Ita­lien, gab es das nächste Wiedersehen, diesmal bereits im Achtelfinale. Stärker in Erinnerung als das Standardergebnis von 2:1 für die Niederlande in Mailand – Ruud Gullit hatte Jürgen Klinsmanns Führung ausgeglichen, Ronald Koeman mit dem inzwischen obligatorischen Elfmeter in der letzten Sekunde das Siegtor erzielt – blieb ein Ereignis aus der 22. Minute. Zunächst hatte Rudi Völler Frank Rijkaard provoziert; es kam zu einer Rangelei, in deren Fol­ge der Deutsche aus Versehen in den Speichel des Niederländers geriet. Warum neben Völler auch Rijkaard anschließend das Feld verlassen musste, ist bis heute das Geheimnis des Schiedsrichters. Oranje wurde dessen ungeachtet nach einem 1:0 gegen Argentinien (Elfmetertor durch Ronald Koeman kurz vor Schluss) zum dritten Mal Weltmeister.

Das stimmt alles gar nicht? Na gut, die Niederlande wurden nie Weltmeister. Aber fast! Und vielleicht war es doch das Trikot von Olaf Thon. Aber der Rest ist verbürgt. Und das sollte doch auch genügen, oder etwa nicht?