Der ästhetische Magnet

Back in Black: Schwarzes Loch, leere Leinwand. Motorpsycho absorbieren die letzten 50 Jahre Rockgeschichte. von roger behrens

Die Astronomie bezeichnet als schwarzes Loch ein Objekt, das wegen seiner Gravitation die Raumzeit so stark krümmt und alle Materie konzentriert, dass selbst das Licht noch angezogen wird. Schwarze Löcher entstehen etwa aus kollabierenden Sternen. In derselben Zeit, in der Einstein die Relativitätstheorie entwickelte, die auch für die physikalische Erklärung der schwarzen Löcher bedeutend ist, begründete Kasimir Malewitsch mit seinem schwarzen Quadrat auf weißer Leinwand den Suprematismus.

Das schwarze Quadrat wurde zum ersten Mal im Jahr 1913 in der konstruktivistischen Oper »Sieg über die Sonne« als Teil des Bühnenbildes verwendet. Ziel war es, ein neues Theater für den »neuen Menschen« zu schaffen. Gerade die wissenschaftlichen Entdeckungen der damaligen Zeit versprachen mehr als die krude Herrschaft über die Natur, nämlich die Überwindung von Raum und Zeit, die Schöpfung einer Allianztechnik und das wahrhaft autonome, weil vollends kollektivierte Subjekt. Die ästhetische Avantgarde konvergierte zumindest ihrer Idee nach mit der politischen Avantgarde: So wie die Wissenschaft die Natur zu überwinden schien, sollte die Kunst die bürgerliche Kultur aufheben und die Po­litik den Staat: als Utopie gegen den Kapitalismus.

Die Avantgarde scheiterte im Stalinismus, und von der kommunistischen Idee der Revolution blieb lediglich die Ideologie des Fortschritts einer bloß noch technischen Revolution übrig. Der Kapitalismus behauptet sich seither als effektives System technologischer Rationalität: effizient sowohl in der Vernichtung wie auch der Unterhaltung der Massen. Die Avantgarde überlebte dies nur durch den Rückzug – nicht in die hohe Kunst, da wurde sie banal und belanglos, sondern im offensiven Zugriff auf den Kitsch und die verdinglichten Formen der Alltagskultur. »Rock’n’Roll« hieß das neue Bewegungsgesetz der Avantgarde. Erst in der Popkultur entfaltete sich die Farbe Schwarz als absolute Verdichtung: symbolisch, aber ebenso material – als Negation. Allerdings ist die Farbe Schwarz nicht mehr Hintergrundfarbe, sondern Vordergrund: der Versuch reiner Präsenz. Der Hintergrund wird die weiße Leinwand, die leere Pro­jektionsfläche.

Motorpsycho, die für eine regelrechte Veröffent­lichungswut bekannt sind, haben nach »It’s A Love Cult« aus dem Jahr 2002 nur eine EP (»In The Fish­tank« mit Jaga Jazzist Horns von 2003 mit einer interessanten Version von »Theme de Yoyo«) und eine weiteres Sideproject-Album (»Motorpsycho presents The International Tussler Society« von 2004) veröffentlicht. Jetzt liegt ein Doppelalbum vor: »Black Hole / Blank Canvas«. Der Titel ist wie immer Programm und verspricht einerseits eine musikalische Gravitationskraft, die so stark ist, dass sie noch jedes Geräusch mit sich zieht, eine Implosion des Klangs, andererseits eine Leere, ein weißes Rauschen. Motor­psycho haben ihrem neuen Album einen Doppeltitel gegeben, nicht unbedingt, um jede der beiden Platten einzeln zu benennen, sondern um zu betonen, dass die Medaille zwei Seiten hat, und um zwei Perspektiven auf die Geschichte des Rock und auf die Ge­schichte der Band werfen zu können.

»Blank Canvas« – das ist ein wenig wie die Verweigerung der Tonmalerei, nämlich die Rückkehr zum ornamentfreien Rock, zum Standard-Riffing. Und »Black Hole« ist dann der ästhetische Magnet, der die vergangenen fünfzig Jahre Rockgeschichte verzerrt, verkrümmt und in sich hineinzieht. Ein Verfahren, welches für die Band aus Trondheim in Norwegen seit nun fast zwanzig Jahren Stil ist, nur dass Motorpsycho sich mit dieser Platte einer Rockgeschich­te nähern, die sie aus dem zeitlichen Kontinuum herausheben, die sie nicht chronologisch adaptieren, nicht einmal historisieren. Ein trockenes AC/DC-Riff wird von voluminösen, offenen Gitarrenakkorden abgelöst, die einmal an Sonic Youth erinnern, dann aber aus der Plattenkiste kommen, in der die alten Alben von Black Sabbath ebenso stehen wie die Stooges. Dann wieder Dinosaur Jr., und zurück zu Grandfunk Railroad, The Who oder sogar Oasis und Mogwai. Auf den Stücken, die völlig auf Keyboards verzichten, gibt es mitunter ausreißende, mäandernde Gitarren, die dann sogar Assoziationen an die Yes der frühen Siebziger wecken. Und in jedem Fall hört man viel aus den neunziger Jahren, weil Motorpsycho sich vor allem selbst zitieren und aktualisieren, insbesondere mit Referenzen zu den Alben »Trust Us« und »Phanerothyme«

Motorpsycho ist mittlerweile nur noch eine Zwei-Mann-Post-Avantgarde-Band, nachdem Schlagzeuger Håkon Gebhardt die Gruppe verlassen hat. Hans Magnus Ryan und Bent Sæther arbeiten als universelle Musiker im Rockuniversum – ein im Übrigen ganz und gar ästhetisches Universum, ohne politische Konstellationen, ohne rote Sonne, ohne Revolution (das Wort kommt ja ursprünglich aus der Astronomie, bezogen auf die Umlaufbahn der Planeten). Und trotzdem funk­tio­nie­ren die Stücke wie Hymnen, klingen nach einem Als-ob: als ob es eben doch ein Pub­likum gäbe, das mehr will als bloß gute Musik. Damit verhält sich die Kunst von Motorpsycho wie andere Künste auch, etwa die Architektur: Nach der Postmoderne folgt die Spätmoderne, eine redigierte, so genannte Zweite Moderne. Und auf den Postrock folgt der Spätstil eines zweiten Rock’n’Roll, Dekonstruktion ohne Be­liebigkeit, Standards ohne Kitsch.

In »Critical Mass« wird ganz langsam der Refrain gesungen: »Going faster, ­going blind / Going mad from all the dreams we left behind / Ever faster, go insane / Go to pieces from the loneliness and strain.« Man erkennt den Stil von Motorpsycho gerade dort, wo man nicht Motorpsycho hört, sondern ein Stilzitat aus den vergangenen dreißig oder vierzig Jahren. Dazu gehört die Vereinfachung, die Reduktion, die aber nicht abstrahiert, sondern vielmehr das Wesentliche einfängt, konkretisiert. Schon die ersten Takte des ersten Stückes »No Evil« entfalten diese Einfachheit, ja rockmusikalische Sachlichkeit als Leitmotiv des Doppelalbums: Kon­struktivismus, Suprematismus, aber unter völlig anderem Vorzeichen, jenseits von Avantgarde und Kitsch, jenseits von Rock gegen Pop, jenseits von New Wave und neuen Moden – am Endpunkt der eigenen Geschichte – und nicht, wie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, am vermeintlichen Anfang. Und auch dies: Gerade der Rockstar ist die hämische Verwirklichung des Über­menschen in der Popkultur; allgemein hat sich Rock­musik dieses nietzscheanische Moment als Authentizitätskult bewahrt. Bei allen Rock-Allüren, mit denen eine Band wie Motorpsycho vor allem live spielt, muss man ihr aber auch beim Hören dieser Platte zugute halten: Stil bedeutet ihr zugleich stilis­tischer Bruch mit eben der Lüge von der Authen­tizität des Ausdrucks. Übrig bleibt die Leere: »But even in my blankness / I still can spot the lie / And recognize the failure in failing to ask why« (»No Evil«).

Die Grenze eines schwarzen Loches bezeich­net man als Ereignishorizont; Motorpsychos »Black Hole / Blank Canvas« ist gleichsam ein Logbuch einer rockmusikalischen Weltenreise. Das letzte Stück führt wie bei »Alice im Wunderland« »Through The Mirror«. Der Titelzusatz lautet: »I Dream With Open Eyes«. Eine in der Science Fiction gerne bemühte Annahme über schwarze Löcher lautet: Sie sind Raum-Zeit-Passagen, durch sie gelangt man von einem Punkt im Weltall zu einem anderen. Man weiß nicht genau, an welcher Stelle im Universum man landet, wohin die Reise geht, was sie und wie viel sie bedeutet: »Through the mirror down the hole / Lose your way but find your soul / There’s nothing too profound behind these words«, lauten die Schlussworte des Albums. Schließlich bleibt die Leinwand leer und blank.

Motorpsycho: Black Hole / Blank Canvas. Stickman Records