Die Abwehr steht schlecht

Es lag wohl nicht nur am Wetter, dass bei der Demonstration gegen Sozialabbau in Berlin keine französischen Verhältnisse aufkommen wollten. von ivo bozic (text und fotos)
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Mit der Regierung französisch reden!« steht auf dem Transparent an der Hauptbühne. Sowieso, »französische Verhältnisse«, lautet die meistverwendete Floskel an diesem 3. Juni in Berlin auf der Demonstration gegen Sozialabbau. Doch von französischen Verhältnissen ist man an diesem Tag weit entfernt. In Paris sind es 22 Grad Celsius und die Sonne lacht. In Berlin werden 13 Grad gemessen (»gefühlte elf«). Außerdem regnet es Bindfäden.

Dabei hätte der Termin für die Demonstration unter dem Motto »Schluss mit den ›Reformen‹ gegen uns« kaum besser gewählt sein können. Vier Tage zuvor beschloss der Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales die bisher drastischsten Angriffe auf Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger, gleichzeitig brach sich in den öffentlichen Debatten eine aggressive Hetze gegen so genannte Sozialbetrüger und »Hartz-IV-Schmarotzer« Bahn. Es hätte keinen besseren Zeitpunkt geben können, die Wut auf die Straße zu tragen.

Die Organisatoren haben sich wirklich Mühe gegeben. Sogar einen Sonderzug hat man arrangiert. Dass sich dann am Ende immer nur die gleichen Politgrüppchen traurig-nass rund um den Neptunbrunnen versammeln – von der DKP und der MLPD über die Linkspartei und die Wasg zu Attac, ein paar Gewerkschaftern von Verdi und einem linksradikalen Block –, kann ja wohl nur am Regen liegen. Oder daran, dass die Auftaktkundgebung nicht wie angekündigt auf dem Alexanderplatz, sondern vor dem mehrere hundert Meter entfernten Roten Rathaus stattfindet. In Frankreich führte schließlich eine um einiges glimpflichere Gesetzesvorlage zu wochenlangen Massenprotesten und brennenden Barrikaden.

Doch man kann noch lange nicht Französisch, nur weil man es sich vorgenommen hat. Und so ist nicht nur das Wetter anders als in Paris. Statt gegen die Verschärfungen in der Sozialpolitik demonstrieren allerhöchstens 10 000 Menschen an diesem Samstag lieber gegen alles Mögliche: »Gemeinsam gegen Massenentlassungen, Sozialabbau, innere Aufrüstung und Krieg!« heißt es im Aufruf. Also kümmern sich diverse Grüppchen an ihren Informationsständen lieber um Mumia Abu-Jamal, den Iran und Bolivien, sammeln Unterschriften »gegen den Atomkrieg« oder für die Zulassung ihrer jeweiligen Gruppierung zu den Abgeordnetenhauswahlen in Berlin.

Die Ökologische Linke verteilt ein zeitloses Flugblatt »gegen Sozialterror und imperialistische Kriege«, die »Volkswiderstandsbewegung der Welt« fordert: »Hände weg von Nepal!« Und Laura von Wimmersperg, die zu den Organisatoren der Demonstration gehört, lässt Handzettel gegen den Besuch von George W. Bush im Juli in Deutschland verteilen.

Die Beschlüsse des Bundestags sind selbstverständlich trotzdem das Thema des Tages. Unter Bäumen und anderen regendichten Unterständen stehen Menschengruppen und diskutieren eifrig darüber, was diese Beschlüsse konkret bedeuten. So ganz haben es die meisten noch nicht verstanden, hat man den Eindruck. »Drei Euro, das sind sechs Mark, das war früher der Eintritt beim VfL Oldenburg«, erläutert ein grauhaariger Mittvierziger unter einem Baum seinen Kollegen. Überall in der Menge fallen Schlagworte wie »Mindestlohn«, »Grundeinkommen«, »Null-Euro-Job«, man versucht, einander die Dinge zu erklären. 7,50 Euro, acht Euro plus X, zehn Euro – einen Mindestlohn scheinen alle zu wollen, über die Höhe muss offenbar noch verhandelt werden. Andere diskutieren lebhaft über die eigenständige Kandidatur der Wasg in Berlin, deren Stand sich großen Andrangs erfreut.

Einfacher ist es natürlich, »Wir sind das Volk!« zu rufen, wie es viele machen. Oder auch Parolen wie: »Nieder mit Hartz IV, Arbeitsplätze wollen wir!« Irgendwie, das zumindest ist allen klar, ist man übel ausgetrickst worden. Ilja Seifert, ein Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, hat auf der Bühne das Mikrofon in die Hand bekommen und argwöhnt eine Verschwörung der »Meinungsmacher« aus den Medien. Er weist darauf hin, dass die Regierenden die WM dazu nutzen werden, den Sozialabbau unbeachtet voranzutreiben: »Sie lenken uns ab mit Fußball!«

Katja Kipping, die stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei, bringt die Auswirkungen der Bundestagsbeschlüsse hingegen treffend auf den Punkt, kritisiert die Residenzpflicht für Arbeitslose, erklärt, warum die Große Koalition die Arbeitslosen in die Obdachlosigkeit treibe. Nach oder vor ihr hätte eigentlich auch Frank Bsirske, der Vorsitzende der Gewerkschaft Verdi, reden sollen. Kurzfristig sagte er ab. Der DGB mag sich den Forderungen des Aufrufs nicht anschließen und hat folglich auch nicht zur Teilnahme aufgerufen.

Aber die Neonazis haben das getan. Nicht nur nach Berlin haben sie die Leute gerufen, sondern auch zu anderen Orten. Die Veranstalter distanzieren sich auf ihrer Home­page deutlich: »Die Organisationen, die zur Zeit ebenfalls für den 3. 6. zu Demos in ganz Deutschland aufrufen, sind nicht unsere Partner, da es ihnen an klaren und eindeutigen Bekenntnissen fehlt, dass sie völkische, nationalistische, rassistische und sexistische Parolen ablehnen.« Insbesondere habe man auch nichts mit den Aufrufen von »montagsdemo.net oder anderen rechtsradikalen Organisationen« gemein.

Ein solcher Aufruf war einen Tag vor der Demonstration noch unter den Terminhinweisen der Tageszeitung junge Welt zu finden. Dort hieß es: »Volksaufstand gegen die Regierung. Macht es wie in Frankreich, lasst die Barrikaden brennen! Während die sich da oben die Diäten erhöhen, müssen wir hier unten mit noch weniger Hartz klar kommen.« Darunter stand ein Link zur »Bürgerinitiative Volksaufstand«.

Auf deren Webpage wiederum heißt es reichlich weltfremd: »Schon einmal haben die Proteste in Deutschland gegen die Hartz-IV-Reform erreicht, dass ein Kanzler abgedankt hat.« Und: »Die Bürger des völkerrechtlich legitimen 2. deutschen Reiches sind aufgefordert, zusammen mit den durch die BRD betrogenen Hartz-IV-Sklaven aufzustehen! Steht jetzt auf, wenn Ihr Deutsche seid.«

An diesem Samstag ist von den Neonazis allerdings nichts zu sehen. Zwar völkelt es gewaltig auf vielen Transparenten und Schwarz-Rot-Gold prangt auf mancher Schirmmütze, aber gegen die Anwesenheit echter Nazis hätten hier sicher alle etwas einzuwenden. Nicht nur, aber vor allem der Block der »Interventionistischen Linken«, wie sich ein Bündnis aus Autonomen, Anarchisten, Antifas und anderen Linksradikalen nennt. Der Block muss sich hinter Attac und Verdi und vor der Linkspartei und der MLPD einreihen. Immerhin hat er einen eigenen Lautsprecherwagen und übertönt zumindest ab und an die Dauerberieselung aus dem Bus der Marxisten-Leninisten am Ende des Zuges.

Hebt sich ein linksradikaler Block inhaltlich normalerweise vom Rest der Demonstration ab, weil dort grundsätzlichere und allgemeine gesellschaftspolitische Forderungen gestellt werden, ist das heute schwierig. Denn allgemein und grundsätzlich sind hier alle Parolen. Die Forderung der Gruppe »Für eine linke Strömung« (Fels), »Her mit dem schönen Leben!«, dürfte hier jeder unterstützen. So ist der linksradikale Wir-wollen-alles-Block zunächst nur ein Kulturphänomen mit etwas dunklerer Kleidung, der besseren Musik, mehr Kapuzen und weniger Regenschirmen.

Der Block schafft es dann aber auf andere Art, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, vor allem jene der Polizei. Die kann es nicht bleiben lassen, mit Fäusten in die Reihen zu prügeln, um ein Transparent zu beschlagnahmen. Auf der Abschlusskundgebung gibt es noch einmal Auseinandersetzungen mit der Polizei, als sie einen Punk festnehmen will.

So kommt zumindest für ein paar Minuten ein ganz kleines bisschen Frankreich-Feeling auf. Doch auch das kann nicht davon ablenken, dass Frankreich sehr, sehr weit weg ist, vielleicht auf einem anderen Planeten, jedenfalls aber von Berlin aus, auch bei bestem Wetter, nicht zu sehen.