Der Anzug für die Frau

Vor 80 Jahren kreierte Coco Chanel das Kleine Schwarze. Eine Hommage an den Klassiker der Damenmode von katrin kruse

Das erste seiner Art endete kurz unter dem Knie. Langärmlig, mit geradem Ausschnitt, tiefgezogener Taille und einem geometrischen Muster aus Biesen: »Chanels Ford« hieß der Entwurf in der Maiausgabe der amerikanischen Vogue von 1926. Die Zeitschrift stellte Coco Chanels »little black dress« in einer schlichten Modezeichnung vor, sagte voraus, das Kleid werde künftig »eine Art Uniform für alle Frauen mit Geschmack« sein – und behielt damit recht. Fortan wurde es »das Kleine Schwarze« genannt. So ist es bis heute.

Das Kleine Schwarze ist eine Art Anzug für die Frau. Vielleicht erklärt sich so, warum ein mittelkurzes, schwarzes Kleid als sensationell empfunden, mit Begeisterung aufgenommen und bald zum Klassiker wurde. Wenn es auch knapp geschnitten ist, wirkt die Trägerin im Kleinen Schwarzen doch sehr angezogen. Die bislang dem Anzug vorbehaltene Konzentration auf den Schnitt führte eine Sachlichkeit in die Frauenmode ein, die ihr zuvor fremd war.

Was brachte Coco Chanel auf die Idee zu dieser trauerfarbenen Uniform? Erinnerte sich Chanel an die »schwarzgekleideten Waisenmädchen« des Konvents, in dem sie nach dem Tod ihrer Mutter aufgewachsen war? Oder war der Entwurf eine Reminiszenz an die kümmerliche Wohlfahrtsuniform, die Coco im Internat hatte tragen müssen? War also die von ihr geschaffene Uniform, dies teure Couturekleid für reiche Damen, die Rache der aus unterprivilegierten Verhältnissen stammenden Modedesignerin, wie Amy Holmann Edelmann in »Das kleine Schwarze« nahe legt?

Möglich. Wahrscheinlicher aber ist, dass sich Chanel einfach die Codes der Männerkleidung zu eigen machte. Wie schon im Jahr 1916 mit den Jersey-Modellen: lose gebundene Jacken und weite, dreiviertellange Röcke im Stil der Kriegskrinoline aus beigefarbenem Jersey. Den Stoff hatte Chanel als Restposten erstanden. Aus derartigem Material hatte man bis dahin nur Männerunterwäsche gefertigt.

Es gibt allerdings auch Zweifel daran, dass es wirklich Chanel war, die das Kleine Schwarze erfunden hat. Immerhin gab es die gerade, quasi taillenlose Silhouette schon seit Anfang der zwanziger Jahre. Dennoch wird es ihr zugeschrieben, vor allem wohl, weil Coco Chanel mit ihrer Lebensweise genau diesen neuen Stil verkörperte. Sie lebte »das Leben dieses Jahrhunderts«, wie sie selbst sagte – arbeitete, machte Sport, ging aus und reiste. Sie schneiderte Kleider für die Frau, die wie sie selbst war und in den zwanziger Jahren die »Neue Frau« hieß: ein prägnanter Phänotyp – kurzröckig, bubiköpfig - der symbolisch gelesen wurde und erstmals Mode und Modernität verband. Zum ersten Mal in der Geschichte der Mode gab es eine Silhouette für alle Frauen. »Die Mode egalisiert sie alle. Es gibt nur noch Schmalhüftige, Busenlose, Kurzhaarige, Herzlippige«, hieß es in einem Kommentar von 1926. Das Kleid übersetzte den Zeitgeist in eine Linie – sachlich, jugendlich, sportlich, modern. Mit erstaunlichem Mut war die Trägerin bemüht, möglichst erfolgreich den modernen Typus zu verkörpern. Dass man letztlich aber doch unverwechselbar war, schien man damals noch relativ selbstverständlich vorauszusetzen. Noch nicht en vogue: die nervöse Sorge um den Ausdruck des Persönlichen.

Das erste kleine Schwarze war aus Seidengeorgette gefertigt – insofern unerheblich, als ja nicht das Chanel-Kleid zählte, sondern der Chanel-Stil. Das echte Couture-Modell aus der Rue Cambon war einem exklusiven Kreis von Kundinnen zugänglich, der Chanel-Stil hingegen allen, und zwar über die Kopie. Das Kleine Schwarze konnte zur Uniform werden, weil es kopierbar war: ohne aufwändige Unterkonstruktion, ohne großen Stoffverbrauch. Die Kopisten störten Coco Chanel auch nicht besonders, vielleicht kamen sie ihr sogar gerade recht. Sie bemerkte nonchalant: »Einmaligkeit ist dazu da, kopiert zu werden.« Wer Angst vor der Kopie habe, der fürchte wohl nur, ihm werde in Zukunft nichts Neues mehr einfallen.

Wichtig war die Wahl des Stoffes – Georgette – in Bezug auf die Farbwahl, Schwarz, den Ton der Trauer. In der ersten Trauerphase trugen Witwen ihre schwarze Kleidung matt, später dann auch glänzend – Georget­te ist matt, also eine ziemlich kühne Wahl. Schwarz stand für Reife, Erfahrung, Sex. Andererseits für das Verbot all dessen. Und Chanel reduzierte doch wieder alles auf den Stil: »Frauen haben die ganze Farbpalette im Kopf, nur an Farblosigkeit denken sie nie. Ich sagte, Schwarz hält allem stand«.

Chanel verlieh dem kleinen Kleid eine hübsche Ambivalenz, ein Changieren zwischen Sachlichkeit – eher angezogen – und dem Zusatz »klein« – eher entkleidet. Seit 80 Jahren hält das variable Schwarze den Launen der Moden stand. Es ist ein eigenes Genre geworden, und gleichzeitig ist das Kleine Schwarze immer auch der Mode unterworfen. Nirgendwo lassen sich die Wandlungen von Silhouetten und Aus­schnittformen und ein veränderter Begriff von Eleganz besser nachvollziehen als anhand dieses Kleides. Rita Hayworth’ Robe in »Gilda« war 1946 die glamouröse Antithese zum schlichten Kleinen Schwarzen. Dann kam Diors New Look - auch hier spielte Schwarz eine wichtige Rolle. Coco Chanel empörte sich jedoch über die steifgefütterten Kleider mit ihren blütenkelchartig aufspringenden Schultern; als Kleines Schwarzes galten ihr diese Kleider nie. 1954 eröffnete die mittlerweile 71jährige ihr Couturehaus in Paris nach 17 Jahren wieder und ersann die nächste Uniform: das Chanel-Kostüm. In den Sechzigern präsentierte Mary Quant das Kleine Schwarze als Mini, Midi, Maxi und in Polyester. Rudi Gernreich entwarf es busenfrei, dann geriet es in Vergessenheit, bis es in den späten Achtzigern mit Corsagen und knappen Röcken wieder erschien, nun, weil sehr drag, auf ungeahnte Art subversiv. Prinzessin Diana schritt in flamboyanten, sehr Kleinen Schwarzen gegen die royale Kleiderordnung an. Später trug Hillary Clinton Donna Karan, und in den Neunzigern dann trat Liz Hurley in Versace, »in ein paar Stoffstücken und Sicherheitsnadeln ins Bewusstsein der Öffentlichkeit«, so die Women’s Wear Daily.

Im Kleinen Schwarzen löste ein Frauentyp den anderen ab, manchmal kam es zu irritierenden Gleichzeitigkeiten. Zum Beispiel 1961. Die barocke Anita Ekberg trug es in »La Dolce Vita«, die knabenhafte Audrey Hepburn in »Frühstück bei Tiffany«. Hepburn mit Strichfigur, die lediglich ihre Accessoires wechselt, im schmalen Etuikleid mit Federschärpe. Ekberg mit veritabler Corsage, schmalster Taille und sehr viel blondem Haar.

»Es war ein warmer Abend, fast schon Sommer, und sie trug ein schmales schlichtes schwarzes Kleid«, heißt es bei Truman Capote, und: »Es lag unweigerlich guter Geschmack in der Schlichtheit ihrer Kleidung, was dafür ihr selbst so viel Glanz verlieh.« Das Kleine Schwarze ist ganz offenbar ein idealer Hintergrund.

»Einfachheit ist der Schlüssel zu jeglicher wahren Eleganz«, das hatte Chanel schon 1923 gesagt. Es ist ja so: Je schlichter ein Kleid, desto größer ist die Aufmerksamkeit, die der Trägerin zukommt. Je einfacher ein Kleid, desto stärker wirken Details – rote Lippen etwa. Einfachheit lenkt den Blick auf die Frau. Es ist der Erfolg des Kleinen Schwarzen, dass es – einmal angezogen – weniger wichtig ist als die Frau, die es trägt. Ein guter Grund, es wieder anzuziehen.