Erdbeer, Schoko, Vanille

Es ist Sommer. Fenster auf, Musik hören. Viel Musik. Neue Platten. von andreas hartmann

Die wichtige Platte, von der es früher einmal hieß, darauf könnten »sich alle einigen«, gibt es nicht mehr. Die Popmusik ist völlig auseinander gedriftet, sorgt aber nur noch bedingt für Differenz, sondern wird im ungemein toleranten neuen Hörverhalten wieder gebündelt.

Beim individualisierten Stöbern nach neuer Musik, beim oftmals ungeordneten Wildern durch Archive im Netz, dem »Soul­­seeken«, stößt man täglich auf so viel unterschiedliche Musik, neue unbedingt hörenswerte Bands und Platten, die wenigstens einen Augenblick lang etwas bedeuten könnten, dass man mit dem Anhören all dieser Klangwucherungen gar nicht mehr nachkommt. Es muss schnell gehen und durcheinander, Popmusikrezeption ist heute wie ein buntes Eis, das wegschmilzt, wenn man sich nicht sofort drüber hermacht.

Wo fangen wir an? Am besten mit Jazkamer, einer digitalen Blackmetalcombo um das norwegische Unsensibelchen Lasse Marhaug. Jazkamers neue Platte nennt sich »Metal Music Machine« (Smalltown Supernoise) und versteht sich als Hommage an Lou Reeds legendäre Anti-Platte »Metal Machine Music«. Dieses Machwerk gilt den einen heute als unzumutbare, persönlich zu nehmende Beleidigung, weil es statt Musik ausschließlich Krach enthält, andere verehren es als eines der ra­dikalsten künstlerischen Statements des 20. Jahrhunderts. Auch Jazkamer wollen mit ihrer halb ironischen Blackmetal-Hommage nicht nur Freunde gewinnen. Blackmetallern wird das zu verschroben sein und den Noise-Fans wiederum zu metallig. Schön, dass es noch Bands gibt, die es niemandem recht machen wollen.

Metal. Wenn man so will, machen auch die Melvins Metal. Freilich typischen Mel­vins-Metal, also mit Haken und Ösen, um die Ecke gedacht, verkorkst und aufgrund fehlender Stupidität wenig tauglich für Headbanger. Da freut sich der Student. Eine »echte« Melvins-Platte, mal ohne Gastsänger wie den ehemaligen Kopf der Dead Kennedys, Jello Biafra, ein wirklich neues Werk, gab es von der Band jedoch seit einer Ewigkeit nicht. Auch »Houdini Live 2005« (Ipacec) ist bloß ein weiteres Lebenszeichen. Mit einem neuen Mann am Bass haben King Buzzo und Dale Crover ihr Album »Houdini« einfach nochmals live eingespielt und sich selbst davon überraschen lassen, was dabei herauskam. Das Ergebnis ist dem Original würdig und doch mehr als nur eine Kopie. Soll erfüllt, doch die Melvins könnten eigentlich mehr.

Mike Patton, früher mit Faith No More der Robbie Williams des Grunge, dann umtriebig in der New Yorker Downtown­szene rund um John Zorn, Melvins-Buddy und kunstambitionierte Nervensäge, versucht sich als Peeping Tom nun doch noch einmal als echter Popstar. Freilich als ein solcher, den man gerne »schräg« nennt. Daher auch der Name: »Peeping Tom« (Ipacec) ist eine vergessene Mitternachtskino-Perle, in der Karlheinz Böhm Mädchen mit einer speziellen Vorrichtung an seiner Kamera abmurkst und sie dabei abfilmt, ein, wie man sagt, »schmutziger kleiner Film«, kein Mainstream, sondern ganz speziell. So wie sich Patton gerne selbst sieht. Er hat für seine Platte eine Reihe einschlägiger Rapper gefunden, die dem Underground zugerechnet werden. Als Sahnehäubchen und um genreübergreifende Offenheit zu demonstrieren, hat er auch noch die Heulboje des gediegenen Stehkragenjazz, Norah Jones, gewinnen können. Allein, die wirklich nicht zu übersehende Überambitioniertheit und das allzu Ausgedachte des Projekts nerven einfach.

Nervig ist auch der Umstand, dass Sea­change aus England mit ihrer neuen Platte »On Fire, With Love« (Glitterhouse) in der deutschen Pop-Presse zur Rettung des Indierocks hochgeschrieben werden. Die Platte geht in Ordnung, aber eigentlich braucht derartigen Gitarrenrock niemand mehr.

Was aber wirklich gar nicht geht, ist das neue Werk von Jeff Mills »Blue Potential« (Tresor). Mills hat einmal entscheidend dazu beigetragen, dass aus Techno das wurde, was eben aus ihm wurde. Sein Techno war hart und Anfang der Neunziger ein radikales Statement der Maschinenmusik. Warum der Mann jetzt mit dem Montpellier Philharmonic Orchestra rummachen muss, bleibt schleierhaft. Tech­no meets Classic, so etwas denken sich normalerweise nur alte Herren mit gelockerten Kra­watten bei der Deutschen Grammophon aus. So haben wir uns die Aufweichung zwischen E- und U-Musik aber nicht vorgestellt.

Zurück zum Indierock, hin zu Mid­lake. Die klingen auf »The Trials of Van Occupanther« (Bella Union) wie Fleetwood Mac, nach perfektem Westcoastpop, nach Kalifornien, nach Klischees ohne Ende. Da kann der Sommer kommen, da fühlt man sich selbst auf dem Fahrrad wie Steve McQueen im Buick.

Wer auch niemals ohne Klischees aus­kommt, ist Serge Gainsbourg. Sie wissen schon: Der Mann mit den schlechten Manieren, mit den tollen Frauen, hat einst ein Buch über das Furzen und dessen Bedeutung für die Kunst geschrieben. Franzose. Auf »Monsieur Gainsbourg revisited« (Universal) wird dem Meister von Acts wie Franz Ferdinand, Jarvis Cocker, ­Marianne Faithfull und ­vielen, vielen anderen mit viel Stilwillen ein Denkmal gesetzt. Wie ­üblich bei der­artigen Tribute-Alben kommt dabei nicht viel rüber, und man neigt zum Totschlagargument: dann doch lieber das Original. Cat Power & Karen Elson covern »Je t’aime moi non plus«, das ist ausnahmsweise eine echt gute Nummer, vor allem deswegen, weil die ganze Stöhnerei, die den Song inzwischen so unerträglich macht, einfach weggelassen wurde.

Auch Matmos wollen auf »The Rose Has Teeth In The Mouth Of A Beast« erinnern. Und zwar an Ikonen der Queerbewegung. Jede Nummer ist Menschen wie Patricia High­smith, William S. Burroughs oder dem verschrobenen Produzenten Joe Meek und der Andy-Warhol-Attentäterin Valerie Solanas, die die Menschheit vom Übel Mann befreien wollte, gewidmet. Hübsche Idee, musikalisch ambitioniert, aber irgendwie ruft die Platte zu sehr und zu laut: »Feuilleton.«

Ohne groß Wind zu machen, über den Dingen schwebend ist Madlib, der auf »The Beat Konducta Vol.1-2« (Stones Throw) mal eben »35 HipHop Instrumentals« vorgelegt hat. Irre Beats, bizarre Samples - und niemand weit und breit rappt über Bitches, Cars und Guns. Auch das kann HipHop im Jahre 2006 sein.

Zum Schluss und weil es gerade so schön und die Eiswaffel so knusprig ist: Venetian Snares. Aaron Funk, der Mann hinter diesem Projekt, entstammt dem Dunstkreis der Mädchenmusik Breakcore und setzt mit jeder seiner in einem mani­schen Tempo produzierten Platten dem mausetoten Drum & Bass ein weiteres würdiges Epitath. Nachdem die letzte Platte von Venetian Snares mit Streicher­samples und Anflügen von Wohlklang verstörte, rappelt es auf »Cavalcade Of Glee And Dadaist Happy Hardcore Pom Poms« (Planet Mu) wieder gehörig. Das scheppert und macht Krach. Vielleicht geht sie ja nun doch endlich unter, die Welt, jetzt, wo das Eis alle ist.

Lasse Marhaug: Metal Music Machine. Smalltown / SupernoiseRob Zombie: Educated Horses. GeffenMike Patton: Peeping Tom. IpacecSerge Gainsbourg: Monsieur Gainsbourg ­revisited. UniversalJeff Mills: Blue Potential. TresorSeachange: On Fire, With Love. GlitterhouseMatmos: The Rose has Teeth In The Mouth Of a Beast. Matador / Beggars Group Madlib: The Beat Konducta Vol. 1 – 2, Stones ThrowVenetian Snares: Cavalcade Of Glee And ­Dadaist Happy Hardcore Pom Poms. ­Planet Mu