Krank im Bett mit Mickey Mouse

350 Ausgaben des »Lustigen Taschenbuchs« sind seit 1967 erschienen. von roger behrens

Als im Jahr 1927 der letzte Band von Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« erscheint, kommt zugleich mit »The Jazz Singer« der erste abendfüllende Tonspielfilm in die Kinos; im selben Jahr trat Oswald The Lucky Rabbit im Zeichentrick auf – die Vorlage für die ein Jahr später und nach einem Rechtsstreit geborene Mickey Mouse. Die gesellschaftlichen Veränderungen, die sich in den zwanziger Jahren vollzogen, hat Antonio Gramsci mit den beiden Schlüsselbegriffen »Fordismus« und »kulturelle Hegemonie« zu fassen versucht; mit seiner Essaysammlung »Die Angestellten« hat Siegfried Kracauer in ähnlicher Weise den Wandlungsprozess der Wirklichkeit der Moderne in diesen Jahren beschrieben. Es ist eine Schwellenzeit, in der die Prinzipien der ökonomischen Effizienz insofern allgemein werden, als dass das Profitmotiv sich in allen Lebensbereichen durchsetzt. Die Trennung von Basis und Überbau verwischt, der Kapitalismus wächst in das Alltagsleben hinein, und die Sphäre der Produktion wird in eine allumfassende Kultur integriert; zumindest ideologisch wird die Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit aufgehoben.

Verändert hat sich nicht nur die Bedeutung und der Bereich der Kultur, sondern die gesamte Matrix von Raum und Zeit, sofern sie in den Erfahrungen sich niederschlägt, die jene gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ausdruck bringen, die als Kultur bezeichnet werden. Signifikant ist das unwiderrufliche Ende der Hochkultur. Wie Kafkas Romane »Der Prozess« und »Das Schloss« oder die Erzählung »Die Verwandlung«, wie James Joyces »Ulysses« und ebenso wie Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« läuft auch Prousts »Suche nach der verlorenen Zeit« ins Leere. In ihrem Untergang setzt sich die Hochkultur durch die monumentalen Werke, die schon keine Werke im ursprünglichen Sinne mehr sind, sondern Auflösungserscheinungen, ästhetische Denkmale der Erinnerung – das ist Thema und Grund von Prousts »Suche nach der verlorenen Zeit«. Es stellt sich heraus, dass die Zeit selber verloren ist, dass die Korrespondenz zwischen Biografie, literarischer Erzählzeit und dem, was Hegel einmal den Zeitgeist nannte, ausgesetzt ist. In Kino und Comic hat sich eine neue Zeit formiert, die sich in der Serie, der Wiederholung, im Standard, im Refrain, schließlich in der Mode manifestiert.

Mickey Mouse ist das prototypische Subjekt dieser neuen Zeit, die berühmteste Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts, die niemals lebendige Person war; ihre Eigenschaften sind genauso Mode wie ihre Kleidung, also wandelbar, wenngleich nicht wirklich modern. Selbst der Name ist unsicher: Der Vorläufer von 1927 sollte »Mortimer Mouse« heißen. Als offizieller Geburtstag von Mickey Mouse wird der 18. November 1928 angegeben – die erste öffentliche Vorführung des Zeichentrickfilms »Steamboat Willie« in New York. Dann wird in Hollywood der siebente Geburtstag gefeiert: 1935, allerdings am 28.September. Eine Mutter gibt es nicht, keine unbefleckte Empfängnis, keine Kindheit; die Vaterschaft Walt Disneys ist umstritten, gleichwohl er als Übervater präsentiert wird und bis 1946 dem Kind die Stimme gibt.

Die Disney-Studios sind der Inbegriff des Fordismus als Kulturindustrie: Nirgendwo sonst wurden die Stereotypen so weit perfektioniert, wurde die gesamte kulturelle Produktion so weit zum Selbstzweck erhoben. Mickey Mouse macht permanent Werbung für sich selbst – als Reklamefigur. Schon die Kontur des Kopfes mit den drei ineinander verschränkten Kreisen unterliegt dem strengen Copyright. Zeit wird hier nicht gesucht, sondern gefunden. 1933 kommt die erste Mickey-Mouse-Armbanduhr auf den Markt. Die Zeit, die gemessen wird, ist eine aus der Geschichte herausgelöste Vergangenheit; Mickey Mouses Reich ist kein Nationalstaat, sondern ein einziger Vergnügungspark, in dessen Mitte ein Dornröschenschloss steht, Neuschwanstein nachempfunden (1955 eröffnet Disneyland in Kalifornien).

1930 kommt Mickey Mouse als Comic in die Zeitungen, 1933 erscheint das erste »Mickey-Mouse«-Heft in den USA. Nach und nach wird die Disney-Familie größer: 1934 tritt Donald Duck das erste Mal auf (in der »Silly Symphony« »The Wise Little Hen«), wird in Comics gezeichnet von Carl Barks. 1951 erscheint das erste Micky-Maus-Heft in Deutschland. 1967 ­erscheint schließlich das ­erste »Lustige ­Taschen­buch« (LTB), von dem nunmehr 350 Bände vorliegen – und im ­selben Jahr ruft Roland Barthes den Tod des Autors aus. Der Text schreibe sich selbst, jeder Satz sei bereits Zitat eines Zitats etc. Walt Disney erscheint mit seiner Schnörkelunterschrift bis heute als Autor auf dem Titel der Lustigen Taschenbücher, obwohl er selbst nie eine der Figuren gezeichnet hat und 1966 verstarb.

Tatsächlich gehört es zu den spärlichen Eigenarten der Lustigen Taschenbücher, dass immer wieder Romane oder Filme zur Vorlage genommen, zitiert und nacherzählt werden; ebenso wird auf geschichtliche Ereignisse zurückgegriffen, wenngleich das zwanzigste Jahrhundert politisch-geschichtlich ausgespart bleibt und alle Akteure scheinbar immer denselben Kalendertag noch einmal erleben. Die Wiederkehr des ewig Neuen. So mag es kein Zufall sein, dass es in der titelgebenden Geschichte »Der Kolumbusfalter« im ersten LTB um Mode geht. Donald und Tick, Trick und Track sollen für Gitta Gans Schmetterlinge fotografieren, die die Flügelmuster für Textildruck verwenden möchte; als geschichtslose Mode hält die Natur Einzug in die moderne Popkultur. Zur Mode gehört auch der Zugriff auf die Zukunft. Mit einer Zeitmaschine reisen Donald und die Neffen ins Jahr 2001 (Stanley ­Kubricks »Odyssee im Weltraum« kommt ein Jahr später in die Kinos). ­Dagobert möchte herausfinden, ob Donald ein würdiger Erbe seines Vermögens ist. Zugleich ist dies eine der wenigen Geschichten, in denen die Möglichkeit des Todes einer der Hauptfiguren in Betracht gezogen wird.

Nun, nach 350 Ausgaben, hat sich einiges geändert, vor allem die Qualität der Geschichten und Zeichnungen. Zwar ist längst jede Seite farbig, dafür haben sich aber die einzelnen Episoden verkürzt, sie basieren häufig auf ebenso belanglosen wie schlecht erzählten Witzen. Ein Beispiel sei hier genannt: Daniel Düsentrieb hat Geburtstag und wird von der Familie Duck auf den Rummelplatz eingeladen. Dort muss er allerdings permanent als Mechaniker einspringen und die Vergnügungsmaschinen reparieren. Schließlich lädt er alle in ein Nobelrestaurant ein, weil es dort voraussichtlich nichts zu handwerkeln gibt – idiotisch! Das Surreale der früheren Geschichten ist durch eine lieblose Unlogik ersetzt worden, die einzelnen Charaktere, vor allem Mickey Mouse, funktionieren nicht mehr in der raffinierten Überaffirmation ihres eigenen Stereotyps, sondern sind beliebig und austauschbar geworden.

Zu Recht wird bemängelt, dass Mickey Mouse kaum noch der gewitzte Detektiv sei, sondern stattdessen vermehrt als alberner Tolpatsch durch die Geschichten stolpert. Bis auf wenige Ausnahmen enthielten die Einzelbände früher (bis Band 106) entweder nur Duck- oder nur Mouse-Geschichten. Heute treten die Figuren gemeinsam auf, wenngleich Duck, Mouse und andere noch immer weitgehend getrennt agieren. Nur selten verbündet sich das Böse, treten Kater Karlo und die Panzerknacker, Klaas Klever, Hugo Habicht oder Gundel Gaukeley zusammen auf. Gelegentlich wird ein Band wieder durch eine Rahmenhandlung zusammengehalten (wie bei den ersten 81 Bänden üblich), die aber weder zum Rahmen noch zur Handlung taugt.

In der Jubiläumsausgabe gibt es nicht die angekündigte »Reise um die Welt«, und keine der Geschichten hält das Versprechen, »phantastisch« zu sein. Nach nahezu vierzig Jahren haben die Lustigen Taschenbücher ihren Reiz lediglich in der Redundanz, mit der sie sich nunmehr auf ihre eigene Popgeschichte beziehen. Eine Geschichte, die keine Tradition hat, sondern konservativ auf der Wiederholung, auf der Mode beharrt. Kein Ende in Sicht, der Ursprung ist das Ziel: die ersten Bände erscheinen längst in neu gestalteten Auflagen. Die einzige Erinnerung, die in diesem Universum Platz hat, ist die eigene: Dass man zu der Generation gehört, die den Ruinen der Hoch­kultur entkommen ist, um sich in der Utopie namens Entenhausen einzurichten. Und so ist man schließlich doch auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Auf der Suche nach der eigenen Geschichte, die nur noch in den Bildern der Popkultur erzählbar und insofern als längst vergangene Mode rekonstruierbar ist: Bilder der Kindheit, die man in den »Lustigen Taschenbüchern« findet – wie man krank im Bett liegt und mit Mickey Mouse durch die Wüste Kater Karlo verfolgt; wie man dank des Schnäppchens auf dem Flohmarkt in die Welt von Phantomias eintaucht; wie man sonntags bei Regen mit Onkel Dagobert auf Schatzsuche ist; wie man mit den Eltern als Chartertourist nach Griechenland reist, mit Indiana Goof aber nach Absurdistan …

Die Jubiläumsausgabe des »Lustigen Taschenbuchs« ist am 25. April im Ehapa-Verlag erschienen.