Endlich Heimat

Setzen wir uns in einen Liegestuhl in der sommerlichen deutschen Sonne und lesen: Matthias Matusseks Buch »Wir Deutschen«. von florian scheibe

Wie bei allen viel diskutierten Büchern von »Mein Kampf« über »Lolita« bis hin zu Dieter Bohlens Autobiografie gilt auch bei dem Buch »Wir Deutschen« die gute alte Regel: Alle reden darüber, aber kaum einer hat’s gelesen.

Wenden wir uns also noch einmal der Lektüre zu und setzen uns am besten in einen Liegestuhl in die sommerliche deutsche Sonne und blicken auf diese 351, unter dem Cover des herbstlichen Neuschwansteins versammelten Seiten, auf die schwarzen Buchstaben zwischen den roten Deckeln des Werks, das von einem schmalen, goldenen Lesebändchen veredelt wird. Lehnen wir uns dabei entspannt zurück und halten uns an die lockere Vorgabe am Ende des ersten Kapitels: »Ansonsten munter bleiben und nicht vergessen: Der beißt nicht, der will nur spielen.«

Sehen wir also ruhig über die »Gefühlswirbel« hinweg, die Hitler als einen »Freak-Unfall der Deutschen« erscheinen lassen, und überlesen auch geflissentlich NPD-würdige Slogans wie: »Ohne Stolz ist eine Nation nicht fähig, die eigene Zukunft zu meistern.« Kümmern wir uns auch nicht weiter um martialische Sätze wie »Es gibt einen Bedarf an Deutschland«, »Wir Germanen waren geschätzte Krieger«, Begriffspaare wie »nationale Familie« oder wabernde Worthülsen wie »Vaterlandsliebe«.

Blättern wir stattdessen einfach weiter und wehren uns nicht gegen unsere tiefe innere Zustimmung, wenn wir so schöne und wahre Sätze lesen dürfen wie: »Die Linke, die sonst so aggressiv auf der Trennung von Staat und Kirche besteht, wird angesichts des Islam weich in den Knien«; oder noch schöner: »Bei einer Koranschule schimmert dem Multi-Kul­ti-Versteher das Auge.«

Und bereitwillig nicken wir auch, wenn wir lesen, dass es vor allem die Sprache ist, die uns verbindet, und wir bedauern mit Matussek, dass es unter Jugendlichen »regelrecht uncool geworden ist, richtig deutsch zu reden«.

Dabei sollten wir uns auch nicht davon ablenken lassen, dass gerade er diese schöne deutsche Sprache immer wieder mit angestrengten Verrenkungen wie »Luftwurzelbildung«, flapsigen Unworten wie »Papp­nasen«, Platitüden wie »von der Pieke auf« oder Entgleisungen wie »Hai-in-Aspik-Gedöns« oder »viel Spaaaaß beim Tennisspieeeeeeelen« mal­trätiert.

Schwerwiegender erscheint es uns da schon, dass er mit Formulierungen à la »wie es Bundestagspräsident Jenninger zu spüren bekam, der seinen Hut zu nehmen hatte« oder »nichts stimuliert die Liebe zum eigenen Land so sehr, als wenn man es ständig gegen Klischees und Herabsetzungen zu verteidigen hat« immer wieder Sätze in den Druck gibt, die selbst den alten Gutenberg dazu gebracht hätten, seine – wie Matussek an anderer Stelle nachdrücklich betont – deutsche Erfindung vielleicht doch noch einmal zu überdenken.

Und trotz dieser Schwächen: Wie spießig wäre es doch, dem Buch all seine kleinen Fehler ankreiden zu wollen, also etwa, dass der 11. 9. auf den 9. 9. verlegt wird, dass das Café »Altes Europa« aus der Ber­liner Gips- in die Auguststraße wandert, dass Matussek die Ehefrau von Joschka Fischer kurzerhand von Minu in »Mihu« umtauft, dass das Büchlein »Wo wir uns finden« von Eckhard Fuhr in »Versuch zur Vaterlandsliebe« umbenannt wird und Matussek den »deutschesten Kultfilm aller deutschen Kultfilme« von Wim Wenders zum »Engel über Berlin« werden lässt. Denn schließlich: Wann ist schon je ein wirklich großer gedanklicher Entwurf über spröde Fakten gestolpert?

Lieber begleiten wir Matussek weiter auf seinen verschlungenen Exkursen zu Arminius, Siegfried, Humboldt, Heine, Heiner Müller, von Schirach (nein, nein, nicht Baldur, Ariadne), Sloter­dijk, Heidi Klum und all den anderen Deutschen, die allesamt, lebendig wie verstorben, in Cafés getroffen oder aus Büchern zitiert, als leuchtende Kronzeugen für einen guten deutschen Patriotismus herangezogen werden und uns dabei in ihrer erstaunlichen Vielseitigkeit noch ganz nebenbei erkennen lassen, dass wir »nicht erst gestern aus dem Eichenwald gekrochen sind«.

Und da eine solche Beweisführung natürlich auch immer eine bestimmte Untersuchungsmethode erfordert, sollten wir uns auch nicht zu sehr davon irri­tieren lassen, dass Matussek einen ansonsten ja durch­aus recht schlagfertigen Menschen wie Harald Schmidt mit Fragen wie »Nennen Sie mir einen coolen Deutschen?«, »Was assoziieren Sie mit Gemütlichkeit?«, »Woran erkennt man eine deutsche Frau?«, »Wie lauten die ersten zwei Strophen unserer Nationalhymne?«, »Mit welchen Gefühlen stehen Sie am Langen Markt von Danzig?« über fast 15 Seiten zu so einsilbi­gen Antworten herausfordert wie: »Da war ich noch nie«, »Einigkeit und Recht« und so weiter, »…dass sie gut aussieht«, »Mag ich nicht so« oder einfach nur »Franz Beckenbauer«.

Schwieriger wird es da schon, wenn man sich vor Augen hält, dass Matussek über genauso viele Seiten an anderer Stelle noch einmal fast das gleiche Interview mit Sarah Kuttner, Klaus von Dohnanyi und Heidi Klum geführt hat, was die Antworten nicht unbedingt interessanter ausfallen lässt.

Aber auch hier sollten wir Gnade vor Recht ergehen lassen und auch angesichts der Tatsache, dass bestimmt ein Drittel der in dem Buch versammelten Reportagen und Satiren zehn bis 15 Jahre alt sind, nicht das Gesicht verziehen, denn schließlich wissen wir ja, dass es gar nicht so einfach ist, 351 Seiten zu einem Thema zu füllen, das sich eigentlich bereits in der Einführung mit ein paar Schlagworten erschöpft hat.

Und während wir nachdenklich weiterblättern, zwischen den beschaulichen Begegnungen, den Spaziergängen, zwischen den Mauerstreifen-, Atelier- und Kneipen­besuchen wird uns auf einmal klar, worum es in »Wir Deutschen« wirklich geht.

Tatsächlich haben wir nämlich gar kein »Buch über uns« oder ein »Buch über die Nation«, wie Matussek es uns gerne glauben machen möchte, in den Händen, sondern ein Buch über ihn selbst. Aufgeregt richten wir uns in unserem Liegestuhl auf und blättern noch einmal zurück, noch vor das erste Kapitel, bis zu einer weiße Seite mit zwei Sätzen in der Mitte: »Für Ulrike und Markus, die größten Geschenke der Deutschen Einheit«.

Wir Deutschen, wir Matusseks. Und natürlich wird uns jetzt klar, dass es höchstens im Freudschen Sinne ein Zufall sein kann, dass es eben dieser Markus war, der den Vater überhaupt auf die Idee gebracht hat, dieses Buch zu schreiben, als er – gerade Mal fünf Jahre alt – »nach einer langen transatlantischen Reise« am Frankfurter Flughafen auf die Knie sank und seufzte: »Endlich Heimat«.

Vater und Sohn, Stolz und Herkunft. Nun erkennen wir auch, dass es natürlich nicht von ungefähr kommt, dass auch Matusseks Bruder darin auftaucht, der als Botschafter in London so sehr unter den antideutschen Anfeindungen der Engländer gelitten hat, dass er sonntags ganz »deprimiert zu uns zum Frühstück kam«.

Dieser Bruder hat genauso seinen Platz in »Wir Deutschen« gefunden wie der »Aufopferungswille« von Matusseks Mutter, die fünf Söhne großgezogen hat und mit achtzig immer noch Schillers »Glocke« auswendig aufsagen konnte, und die bürgerliche Weltläufigkeit des Vaters, der »jahrzehntelang die gleiche rote Strickjacke« trug, Eintopf mochte, mit seinen Söhnen Fußball spielte, mit ihnen über Jaspers und Marx diskutierte und der, wenn er nicht gerade dabei war, von »heiserem Kopflachen« begleitet Thomas Mann vorzulesen, »zu Weihnachten Penner von der Straße unter unseren Weihnachtsbaum geholt hat«.

Und irgendwie wird uns auf einmal ganz warm ums Herz, weil wir dabei sein dürfen, wie die Emotion mit der Nation verschmilzt und zu einer großen sämigen Creme aus Bruderliebe, Vatersprache und Mutterland wird. Und vor diesem Hintergrund haben wir natürlich auch volles Verständnis, wenn die Bombardierung ostdeutscher Städte 1945 mit den Sätzen gewürdigt wird: »Die Großmutter meiner Frau lag damals zwei Tage in Erfurt unter Trümmern begraben. Noch heute kann sie nicht bei geschlossenen Türen schlafen.« Oder wenn ein Überfall auf den Schwiegervater in Rio de Janeiro dafür herhalten muss, deutsche Tugenden wie Sicherheit und Ordnung hoch leben zu lassen.

Und mehr noch als sowieso schon schämen wir uns für unsere politischen Phrasen, für un­sere Rechthaberei, für unseren Selbsthass und unsere Familienunfähigkeit.

Und während die deutsche Sonne langsam hinter einer Gruppe von Eichen am Horizont untergeht, klammern wir uns an die Lehnen unseres Liegestuhls und lesen mit Tränen in den Augen die letzten Sätze des Buchs über Matusseks Frau, die so perlend, so glasklar und zugleich so ehrlich sind, dass wir nicht anders können, als in tiefer Demut unser Haupt zu neigen. Sie lauten: »Viel später bat ich sie, jetzt einen unverkrampften Satz über Deutsch­land zu sagen. Aber sie war schon eingeschlafen. Sie sah sehr schön aus. Sie war der Satz.«