Hauptsache Reformen

Es soll alles immer besser werden

Schon Friedrich Engels kannte die deutsche Misere: »An den gesellschaftlichen Verhältnissen Deutschlands hat das Jahr 1866 fast nichts geändert. Die paar bürgerlichen Reformen erreichen noch nicht einmal das, was die Bourgeoisie anderer westeuropäischer Länder längst besitzt.« Noch heute herrschen in Deutschland dieselbe Rückständigkeit und derselbe Stillstand. Deutsche Politiker, Wissenschaftler, Unternehmer und Gewerkschafter werden deshalb nicht müde, Reformen zu fordern, Reformen, Reformen und noch mehr Reformen.

Der Wirtschaftswissenschaftler Tasso Enz­weiler greift Engels’ Vergleich direkt auf: »Andere europäische Länder haben ihren Sozialstaat in den achtziger und neunziger Jahren bereits reformiert. Sie haben umgesetzt, was Deutschland zerredet: Reformen.« Raghuram Rajan, Chefvolkswirt des IWF, sieht die Lage differenzierter: »Einige Reformen haben stattgefunden, aber andere zusätzliche Reformen sind noch nötig.« »Deutschland braucht Reformen, die die lahmende Binnenkonjunktur in Schwung bringen und den Aufbau neuer Arbeitsplätze unterstützen«, pflichtet die IG Metall bei. Auch die evangelische Kirche will nicht abseits stehen: »Wir müssen Mut zu Reformen einfordern. Da werden wir als Kirche nicht nachlassen«, betont der Ratsvorsitzende der EKD, Manfred Kock.

»Meine Damen und Herren, wir brauchen kein Reförmchen, sondern eine umfassende Reform«, ruft Dagmar Enkelmann von der Linkspartei vorlaut dazwischen. »Wir wollen die radikalsten Reformen überhaupt«, setzt ihr Parteifreund Gregor Gysi begeistert noch eins drauf. Die FDP unterhält in ihrem Fuhrpark gar einen »Reformexpress«, den sie zu Wahlkampfzwecken auf die Straßen schickt.

»Jetzt gilt es durch eine ideologiefreie, sach­orientierte und konsequente Reformpolitik die Stimmung nachhaltig zu unterfüttern«, versucht Christopher Pleister, Präsident des Bundesverbands der Volks- und Raiffeisenbanken, wieder sachlich zu werden. Renate Kü­nast ist pessimistisch und befürchtet »ein Stiefmütterchen statt der notwendigen Mutter aller Reformen«. »Wir sind mitten in der entscheidenden Phase der zentralen Reformvorhaben«, hält SPD-Generalsekretär Hubertus Heil dagegen. »Ich denke, dass wir tatsächlich auch Reformbedarf haben«, wägt Horst Köhler vorsichtig ab. »Um zurück an die Spitze zu kommen, brauchen wir tief greifende Reformen«, wiederholt BDI-Präsident Jürgen Thumann. Das Manager Magazin dagegen denkt an die Praxis: »Erfolgreiche Reformpolitik braucht Professionalität und Echtzeitkontrolle in der Umsetzung.«

Doch zieht auch die Bevölkerung mit? »Was jetzt notwendiger denn je wird, ist eine Mobilisierung der öffentlichen Meinung zugunsten weitreichender Reformen«, gibt der Ökonom Thomas Straubhaar zu bedenken. »Gerade in schwierigen Zeiten, in denen schmerzhafte Reformen anstehen, brauchen wir Optimismus, Schwung und guten Mut. Die immer schlecht gelaunten Miesmacher brauchen wir nicht«, kommentiert Oliver Santen in Bild. Doch es scheint, als hätten es die Deutschen endlich verstanden: »Drei Viertel der Bundesbürger sind der Meinung, dass die Reformen der vergangenen Jahre noch nicht ausreichend waren und konsequent weitergeführt werden müssen«, hat eine McKinsey-Studie herausgefunden. Deutschland ist endlich auf dem richtigen Weg, seine Vergangenheit zu überwinden. Es wird nie da gewesene, revolutionäre Reformen geben!

theodora becker