Nachruf auf die Mutti aller Hitparaden

Nach 42 Jahren wird die britische Sendung »Top of the Pops« abgesetzt. von markus ströhlein

Als etwas zu vollmundig entpuppte sich Jimmy Savilles Vorhersage letztlich doch. Als der Moderator nach der ersten Sendung von »Top of the Pops« am Neujahrstag des Jahres 1964 gefragt wurde, wie lange die Show seiner Meinung nach laufen werde, antwortete er: »So lange, wie die Leute Schallplatten kaufen!« Allzu schlecht lag er mit seiner Prognose nicht. Denn aus den anfänglich geplanten sechs Sendungen wurden 2 204, aus einer Laufzeit von sechs Wochen wurden 42 Jahre. Ende Juli ist nun Schluss für das britische Urformat des Musikfernsehens.

Gescheitert ist »Top of the Pops« am Pop selbst und daran, dass es zu viel Pop gibt. »Heute haben wir unzählige Quellen für Musik – iPods, Videos, MTV, Millionen von Möglichkeiten«, sagt Dave Lee Travis, Moderator in den Jahren von 1974 bis 1984. Und in Zeiten, in denen das Internet und die Downloads die Musiksender und die Singleverkäufe bedeutungslos gemacht haben, braucht wirklich niemand mehr eine wöchentliche Chartshow im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.

»Es lässt sich nicht bestreiten, dass ›Top of the Pops‹ am Ende nur noch peinlich war«, meinte ein Zuschauer in einer Zuschrift an den Sender. Die Verantwortlichen von der BBC wussten in den vergangenen Jahren auch nicht mehr so recht, wie sie der Sendung wieder zu alter Größe hätten verhelfen können. Sie wurde von einem Programmplatz zum nächsten verlagert und auf BBC 2 abgeschoben. In den siebziger Jahren sahen rund 19 Millionen Briten die Show, zuletzt war es nur noch eine Million.

Das glanzlose Ende sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Sendung »Top of the Pops« in ihren besten Zeiten hielt, was ihr Name versprach. Die erste Sendung eröffneten die Rolling Stones mit »I wanna be your man«. Zum Schluss der Show wur­de eine Aufzeichnung von den Beatles eingespielt. Mehr Pop ging nicht.

So wurde »Top of the Pops« schnell zum wichtigen kulturellen Bezugspunkt für britische Jugendliche. Wie sollte man bei nur zwei Fernsehkanälen auch sonst erfahren, wie eine Band aussieht, wie sie sich bewegt, welches Image sie pflegt? Für manchen Teenager, der in den sechziger, siebziger oder achtziger Jahren aufgewachsen ist, dürfte die Show ein Erweckungserlebnis gewesen sein. So schreibt eine Kommentatorin im Guardian: ›Top of the Pops‹ hat mir gezeigt, dass es auch Leben außerhalb von Northampton gab.«

Ende der Sechziger lösten der »Summer of Love«, Woodstock und die Hippiebewegung die britische Beat-Ära ab. Die Macher der Show ließen Jimi Hendrix und andere spielen und profitierten von der Blüte der US-amerikanischen Popkultur. In den Siebzigern war die Sendung die perfekte Plattform für den Glamrock. Marc Bolan und T-Rex, David Bowie und Slade waren Dauergäste, dürften die Visagisten der BBC aber immer wieder aufs neue vor logistische Pro­bleme gestellt haben, so grell und dick war ihre Schminke aufgetragen.

Ganz geschmackssicher ging es natürlich auch bei »Top of the Pops« nicht immer zu. Der Moderator Jimmy Saville trug seine hellblonden Haare im Look von Prinz Eisenherz und trug dazu Zuhälterkettchen. Andere Moderatoren sahen aus wie Lehrer und Sozialarbeiter und führten auch genauso verkrampft durch das Programm.

Die Tatsache, dass manche Bands nicht im Studio erscheinen konnten, um einen Auftritt hinzulegen, veranlasste die Produzenten bald zu einer entscheidenden Neuerung: Zur Musik vom Band gab es nun ei­ne Tanzeinlage. Die Truppe Pan’s People hopste in den Siebzigern recht häufig durch das Studio, meist in unsäglichen Klamotten und immer mit einem breiten Lächeln. Auch in der Trashkultur gelang es »Top of the Pops« also, entscheidende Akzente zu setzen.

Im Vergleich zum Programm der neu entstehenden Musiksender wirkten die Tanzeinlagen wohl doch etwas zu abgeschmackt. Anfang der Achtziger verzichtete man auf die Tanztruppe.

Unter musikalischen Gesichtspunkten dürfte die interessanteste Zeit der Sendung während der siebziger, Anfang der achtziger Jahre gewesen sein. Selbstverständlich bediente sie immer den Mainstream. Und natürlich herrschte immer die harte Regel: Was sich nicht verkauft, ist nicht Pop. Doch in dieser Zeit fanden auch Bands Absatz, die mit dem glatten, gut gelaunten Pop recht wenig zu tun hatten. Die Ramones, The Jam, The Specials, The Damned, The Cure, Bauhaus, The Stranglers, Marc Almond, The Smiths und andere traten in der Show auf. Moderiert wurde sie von 1981 bis 1987 von keinem Geringeren als John Peel. Er nahm seine Rolle nicht allzu ernst und kam auch mal in einer Robe aus dem 17. Jahrhundert zur Arbeit.

Die Sendung gibt auch den Blick frei auf die schlechte Seite des Pop. Nicht nur, dass das hedonistische Versprechen vom sofortigen Glück nur angedeutet und niemals eingelöst wird. Manchmal wird die Aussicht auf das Glück auch völlig verstellt. Die BBC verfügte da über eine recht einfache Methode. Waren Songs zu offen in Sachen Sex und Drogen, wurden sie zensiert und durften nicht gespielt werden. Der Titel »Relax« von Frankie goes to Hollywood wurde 1984 aus der Sendung verbannt. Der Text wurde als obszön eingestuft, das Video mit seiner Fetisch-Ästhetik ebenfalls. Ähnlich erging es 1988 dem Song »We call it Acieeed« von D Mob. T-Shirts mit Smileys und Acidhouse waren in den Clubs angesagt. Für die Verantwortlichen der BBC war das Lied jedoch eine Verherrlichung des Drogenkonsums und deshalb unspielbar. Auch in etlichen anderen Fällen zeigte sich die BBC ungnädig.

Populär war die Sendung in den Achtzigern nach wie vor. Die britische Eisenbahn benannte 1984 sogar eine Lokomotive nach dem Format. Die Neunziger gehörten dann allerdings schon MTV. Die BBC hielt dagegen an »Top of the Pops« fest. Sie brachte ein Heft für Teenager mit dem gleichen Namen auf den Markt. Und sie versuchte, die Sendung international zu verkaufen. In Deutschland lief sie ab 1998. Teenager, die auf Kommando kreischten, und Moderatoren, die zu jeder Gelegenheit ihre Hysterie in die Mikrofone plärrten, machten die Show jedoch praktisch unerträglich. Im April wurde die deutsche Version wieder eingestellt. In anderen Ländern wie Portugal und Holland war es ähnlich.

Nach dem letzten Aufbäumen kommt nun also das Ende. Dabei lässt sich ein weiterer Mechanismus der Popindustrie gut beobachten: die Verwertung der Nostalgie. Die Archive der BBC sind voll, die Erinnerungen von Teenagergenerationen aus mehr als drei Jahrzehnten wollen geweckt werden. Diesem Bedürfnis kommt die Fernsehanstalt mit »Top of the Pops 2« nach. In der Sendung werden lediglich alte Ausschnitte ausgestrahlt. Das ist billig und zieht. Unter Umständen läuft dann auch noch einmal der Auftritt der Rolling Stones in der ersten Sendung. Vielleicht lässt sich die Band nach dem Ende von »Top of the Pops« ja dazu bewegen, sich aufzulösen. Zeit wäre es ebenfalls.