Am Ende des Tunnels

In der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel produzieren Gefangene die Zeitung Lichtblick. von daniel steinmaier

Unter normalen Umständen öffnet man bei drückender Hitze Fenster und Türen. Bei unerträglichem Baulärm kann man notfalls spazieren gehen. Und gerät man an einen unfähigen Arzt, sucht man sich eben einen besseren.

Sitzt man im Gefängnis, kann man das alles nicht, ist man der Hitze, dem Lärm oder dem Anstaltsarzt ausgeliefert. In Haft zu sitzen, bedeutet schließ­lich, der Staatsgewalt mit Leib und Leben ausge­liefert zu sein.

Seit 1968 wird in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel die Gefangenenzeitung Lichtblick produziert, in der von solchen Problemen aus nächster Nähe berichtet wird. Denn die aus drei ehemaligen Zellen bestehenden Redaktionsräume befinden sich mitten in der Teilanstalt 3, einem klassischen Gefängnisbau mit engen Gängen, metallenen Galerien und den obligatorischen Netzen, damit sich niemand aus den oberen Etagen ins Erdgeschoss stürzt.

Alle Redakteure des Lichtblick sind Gefangene, die hier im Rahmen der im Gefängnis herrschenden Arbeitspflicht beschäftigt werden. Dass die Zeitung neben den umfangreichen Berichten über das Kulturprogramm des Gefängnisses, über Re­sozialisierungsangebote und Rechtsberatung auch Kritik an den Haftbedingungen üben kann, verdankt sie der von der Anstaltsleitung zugesicherten Zensurfreiheit. Denn im Unterschied zu allen anderen Gefangenenzeitungen in Deutschland sind die Häftlinge auch selbst Herausgeber der fünf bis sechs mal jährlich erscheinenden Zeitschrift.

Dennoch wurde die erste Ausgabe dieses Jahres zensiert und eingestampft. Anlass war, wie der Lichtblick-Redakteur Dirk Stephan erzählt, unter anderem das Titelblatt, das einer Filmszene entnommen ist, in der ein Wärter auf einen Gefangenen einschlägt. Dazu kam ein von der Redaktion übernommener Leserbrief, in dem einem Vollzugsbeam­ten schweres Fehlverhalten vorgeworfen wurde. Auch berichtete die Zeitung über einen Vorfall in der Teilanstalt 1, bei dem sechs Beamte einen Gefangenen massiv verprügelt haben sollen. Da der juristisch noch ungeklärte Vorfall nicht im Konjunk­tiv geschildert wurde, erstattete die Gewerkschaft der Beamten im Strafvollzug Anzeige gegen die Redaktion.

»Das war eine ganz massive Lichtblick-Ausgabe«, meint Dirk Stephan. Dennoch sei seiner Meinung nach hier »mit Kanonen auf Spatzen geschossen« worden – schließlich hätten die Anwälte des Blattes keine eklatanten Rechtsverstöße feststellen können. Da rechtlich jedoch nicht klar sei, ob die Gefängniszeitung dem Presserecht oder dem Justizvollzugsgesetz untersteht, habe man auf einen Prozess verzichtet und stattdessen mit der Anstalts­leitung eine Einigung erzielt. Trotz theoretischer Zensurfreiheit sind die Redakteure letztlich auf das Wohlwollen der Anstaltsleitung angewiesen.

Dass ein im Lichtblick beschuldigter Beam­ter versetzt wurde, zeigt, dass das Engagement der Redakteure trotz Zensur nicht um­sonst war. Gegen die sechs wegen Anwendung körperlicher Gewalt beschuldigten Beamten läuft ein Ermittlungsverfahren. Bei der Gewerkschaft der Beamten im Straf­vollzug und bei den ebenfalls kritisierten An­staltsärzten ist die Zeitschrift daher nicht eben beliebt. »Anfeindungen gibt es schon, weil wir vielen Leuten auf die Füße treten. Aber das ist auch unser Job. Wir merken das dann an der Reaktion der Beamten, an den kleinen Repressalien.«

Gleich der freien Presse draußen beansprucht der Lichtblick daher eine gewisse Kontrollfunktion. Recherchieren können die Redakteure dank ihrer »Läuferausweise«, mit denen sie sich innerhalb der Mauern zwischen sieben und 18 Uhr frei bewegen können. Dadurch haben sie Zugang zu allen Gefangenen. Auch der Redakteur Walde­mar Stepinski meint, »die Beamten würden sich anders benehmen, wenn die Zeitung nicht da wäre«.

Die Berichte des Lichtblick können aber nur Wirkung zeigen, weil sie auch außerhalb der Gefängnisse von Rechtsanwälten, Richtern und von Mitgliedern des Vollzugsbeirats gelesen werden. Doch über diese Stammleser kommt die Zeitschrift bisher kaum hinaus. »Wir versuchen daher, auch Kontakte zu anderen Zeitungen draußen her­zustellen«, erzählt Dirk Stephan. Schließ­lich seien die Gefangenen stets Objekte der öffentlichen Meinung, eine eigene Stimme aber haben sie nicht.

So wie das Gefängnis für den einzelnen Häftling vor allem bedeutet, entmündigt, wehrlos und ausgeliefert zu sein, sind die Gefangenen kollektiv der öffentlichen Meinung ausgeliefert. Dass im Rahmen der Föde­ralismusreform Anfang Juli der Justizvollzug zur Ländersache erklärt wurde, verstärkt dies. Während die Gesetzgebung des Bundes das Resozialisierungsziel betont, forderten die Bundesländer bereits 2003 einen restriktiveren Strafvollzug.

»Schließlich lässt sich die Handlungsunfähigkeit der Politik, wenn es um Arbeitslosigkeit oder den Staatshaushalt geht, nur noch in der Sicherheitspolitik kompensieren«, meinen die Redakteure, »die Gefangenen werden als Spielmasse benutzt.« Medienberichte über Kindermorde, Sexualdelikte, jugendliche Intensivtäter und daran anschließende populistische Kampagnen führen zum fort­schreitenden Abbau von Gefangenenrechten, zur Verschlechterung der Haftbedingungen und auch dazu, dass die Gerichte immer längere Haftstrafen verhängen. Und die werden größtenteils im geschlossenen Vollzug und meist bis zum Ende abgesessen, auch wenn die Gesetzgebung eigentlich den offenen Vollzug sowie die Entlassung nach Ablauf von zwei Dritteln der Strafe favorisiert.

Mit den Chancen auf vorzeitige Entlassung sinke auch die Motivation der Gefangenen, mit ihrer Lage konstruktiv umzugehen, meint Waldemar Stepinski. Um die knappen Resozialisierungsangebote müsse man sich kümmern, und das könnten schließlich nur diejenigen, die ohnehin bereits »sozialisiert« seien. Für das Klientel, welches eigentlich »resozialisiert« werden müsse, bleibe nur das Absitzen der Strafe bis zum Ende. Die ständige Überbelegung der deutschen Gefängnisse ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Häftlinge sehr lange einsitzen. Denn die Kriminalität ist ganz im Gegensatz zur landläufigen Meinung rückläufig, insbesondere was die klassischen Verbrechen angeht.

Zudem werden Resozialisierungsmaßnahmen immer häufiger aus Kostengründen gestrichen. Daraus resultieren jedoch längere Haftzeiten und somit wieder höhere Kosten. Die Tendenz zum angeblich billigeren Vergeltungsvollzug – so nennen die Lichtblick-Redakteure das Wegsperren von Gefangenen – führe auch dazu, »dass die entlassenen Gefangenen immer gefährlicher werden«, meint Dirk Stephan. Der Schutz der Öffentlichkeit, der in der gesellschaftlichen Debatte längst das gesetzlich festgelegte Resozialisierungsziel in den Hintergrund gedrängt hat, wird durch den »Vergeltungsvollzug« keineswegs gefördert.

Gegen die allgemein verbreitete autoritäre Kritik an zu laschen Strafen und zu teuren Gefängnis­sen regt sich aber auch in der Linken kaum mehr Widerstand. Mit der Militanz haben schließlich auch die Erfahrungen mit harten Urteilen, brutalen Wärtern und kleinen schmutzigen Zellen abgenommen. Den wenigen, die noch für humanere Haftbedingungen eintreten, wird dagegen schnell mit radikalem Gestus vorgeworfen, dass sie das Knastsystem nicht an sich in Frage stellen. Orien­tiert man sich jedoch an den Aussagen von Häftlingen, so wird klar, dass manche von ihnen es schon als Fortschritt ansähen, wenn alle Häftlinge den Knast auch lebendig wieder verließen.