Die Natur beißt zurück

Von Kante gibt es ein neues Album. Diskurs und Rock kommen auf ihm nicht zu kurz. von roger behrens

Im bürgerlichen Zeitalter hat insbesondere die Musik die Aufgabe übernommen, einer Natur zum Ausdruck zu verhelfen, die von der modernen Kultur seit den frühesten Tagen des Kapitalismus unterdrückt, ausgebeutet und entstellt wird. Die Musik scheint deshalb dafür prädestiniert zu sein, weil sie der Natur so verwandt klingt, ja mehr als andere Künste selber noch Natur ist, nämlich menschliche Natur; nicht von ungefähr wurde die Musik in der philosophischen Ordnung der Ästhetik als Kunst subjektiver Innerlichkeit bezeichnet.

Zugleich hat die Musik als Teil der Kultur das kulturelle Leben entscheidend geprägt: Dass im Spätkapitalismus alle Kultur zur Ware wird, ist an der Musikbranche nachzuvollziehen und schließlich im Pop zum allgemeinen Prinzip erklärt worden. So bewegt sich spätestens mit der Frühromantik Musik zwischen einerseits der ersten, »echten« Natur und ihren ideologischen Surrogaten und andererseits einer zur zweiten Natur gewordenen Kultur. Beethovens sechste Sinfonie, die Pastorale, ist vielleicht das berühmte Beispiel dafür – »die Wachteln, Nachtigallen und Kuckucke ringsum« hätten dabei »mitkompo­niert«, soll Beethoven gesagt haben. Und ein knappes Jahrhundert später schreibt Gustav Mahler mit seiner Dritten eine Natursinfonie: »Was mir die Tiere im Walde erzählen«, lautete etwa der provisorische Titel eines Satzes.

Dass nicht nur formal, sondern auch inhaltlich die gesamte Popmusik oft von der Romantik inspiriert ist und dass sich umgekehrt die Romantik in der Pop­musik fortsetzt, kann immer wieder beobachtet wer­den. Allein deshalb sollte es nicht verwundern, wenn ab und an die Natur, der Wind, die Pflanzen und die Tiere in der Musik der Gegenwart auftreten, gerne in Verbindung mit der Natur zugesprochener Magie und Mythen. Und ebenso gerne auch in Verbindung mit moderner Technik, die die Natur zum Sprechen bringt: In Alfred Hitchcocks Film »The Birds« etwa erzeugte der seltsame Synthesizer-Vorläufer Trautonium die bedrohlichen Vogelstimmen.

Pink Floyd wiederum ließen in ihrem Stück »Sea­mus« auf ihrer Platte »Meddle« von 1971 einen Hund den Blues singen, Yes verwendeten 1972 eine Tonband­schleife für das Vogelgezwitscher zu Beginn von ­»Close to The Edge«, und Tom Jobim komponierte 1973 mit »Matita Perê« gleich ein ganzes Album für einen brasilianischen Vogel.

Anfang der Siebziger ging auch Rolf Dieter Brinkmann mit einem Aufzeichnungsgerät durch Köln und kommentierte die Natur der Stadt. Er sagte: »Die Tie­re sind unruhig.« Was er damit meinte, schrieb er damals in einem Gedicht: »Die Tiere waren unruhig. Viel­leicht, weil/der Platz zu ruhig war. Sie re­de­ten. Nun waren/sie älter geworden und mussten ster­ben./… /An den Wänden hängen die Bilder, die/keiner mehr berührt. Die Apparate sind/abgestellt. Es ist wieder ruhig geworden,//und ich gehe in dem Sonnenlicht/über den Asphalt, wo sie sind.«

Die unruhigen Tiere sind die Lebewesen der zweiten Natur, die Stadtbewohner, die gezähmte Natur im Dschungel der Metropolen. Brinkmann, der erst in aktuelleren Debatten zum Vater der deutschen Poplite­ratur erklärt wurde, spielt hier die Dialek­tik zwischen Natur und Kultur vollends aus: Er ist romantisch, kommt aber ohne Pathos aus. Das hat er von der Beatliteratur gelernt, die dies wiederum dem Jazz entlieh.

Kante haben aus Brinkmanns Zeile einen Song gemacht und ihr neues Album danach benannt; und wie bei Brink­mann bedienen die hier benutzten Na­tur­bil­der keine naiv-romantische Sehnsucht, keine Weltflucht, keine pseudo-onto­logische Seinsvergessenheitslyrik; the­ma­tisch ist die von Kante skizzierte Tierwelt eine andere als die neuerlich etwa von Toco­tronic oder Blumfeld angerufene. Viel­mehr wird hier eine Natur profaner Er­leuch­tung beschrie­ben: Sie ist messianisch und mate­rialis­tisch zugleich, und zwar genau in der Weise, wie das alltägliche Natur­verhältnis sich heute allenthalben äußert. Die Zombies von Kantes letztem Album (»Zombi«) kehren jetzt als Raubtiere zurück, die es in unserer Welt nur noch aus Plüsch gibt. Die Bandmitglie­der Felix Müller, Thomas Leboeg, Florian Dürrmann und Sebastian Vogel erscheinen auf Presse­fotos verkleidet als Pandabär, Schwarzbär, Gorilla, Igel, Löwe und Peter Thiessen als Braunbär (der Verweis auf den erschossenen Braunbären Bruno ist in der Musikpresse bereits hinreichend erwähnt worden).

Die Tiere, die Kante in den sieben jeweils fünf Minuten nicht unterschreitenden Tracks auftreten lassen, sind ver­gleichs­wei­se wenige: Vögel treten auf und insbesonde­re Geier, außerdem Insekten, nämlich Falter, Motten, Käfer und Grillen; zweimal sind es bellende Hunde, um die es geht, und ganz zum Schluss, in dem Song »Die Hitze dauert an«, geht es um Füchse: Sie »trauen sich raus / wittern den Müll hinter dem Haus«. Erst in der Dunkelheit der Kul­tur traut sich die Natur wieder hervor: »Un­sere Worte sind verhallt / und unsere Gesten am Zerfallen / unsere Orte werden still / und unsere Wünsche werden alt. // Doch für uns ist nichts verloren / solang’ der Schmerz noch in uns wohnt / und unser Zorn im Wan­del bleibt / auch wenn die Zeit ihn nicht mehr heilt.« Es wird eine Natur beschrieben, »die nicht Schauplatz der Geschichte und nicht Wohnort der Menschen ist«, wie Walter Benjamin einmal notierte.

Auffällig ist auch – wenn man Kante einmal in den Kontext anderer Bands stellt, zu denen es persön­liche, politische und künstlerische Beziehungen gibt –, dass die fünf Musiker und zahllosen Gast­instrumentalisten immer stärker als Band arbeiten, als Kollektiv produzieren. Dabei geht es wieder in die Zeit von Brinkmann zurück: Zahlreiche Verbin­dungen zum Avantgarde-Rock, Glam-Rock, Prog-Rock, selbst zu Fusion und Jazzrock lassen sich hören, als Zitat, als Kolportage, als Rettung des Unab­gegoltenen. Solche Verfahren ließen sich am ehesten noch mit dem Etikett »Postrock« erklären, und zwar in der Weise, wie Anfang der Siebziger schon Brink­mann den Begriff der Postmoderne für die Literatur stark machen wollte. Deshalb stimmt es genau genommen nicht, wenn Kante jetzt selber sagen, sie seien mehr »rockorientiert« als bei den vorherigen Alben – was die Musikpresse wie ein Schuldeingeständnis quittiert, um jetzt offiziell zugeben zu können, dass die Kante-Platten »Zwei­licht« und »Zombi« kompliziert und verkopft waren. Das ist haltlos, sofern man unter »Rock« die sehr lebendige und dynamische Musik der frühen Siebziger und nicht den Schema­tismus der Gegenwart versteht: Kante haben einfach schon immer Rock gemacht.

Wie der nun funktioniert, verdeutlicht Ruth May mit der Vorlage für das Albumcover: Eine Stoffarbeit, ein großes rotes Tuch, benäht und bestickt wie die Transparente der Kommunisten, sorgfältig und sauber gearbeitet – und doch zugleich verzogen, schief, unruhig wie die beiden dargestellten ineinander verbissenen Tiere. Auch hier ergibt sich die Unruhe aus dem Material, aus den schweren und leichten Stoffen, aus den Fäden und Nähten. »Kante – Die Tiere sind unruhig« wirkt darauf wie eine Parole.

Kante: Die Tiere sind unruhig (Labels/EMI)