»Einem Militär kann man grundsätzlich nicht trauen«

Pablo Martínez und José Sanchez

Am venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, einem ehemaligen Fallschirmspringer und gescheiterten Putschisten, scheiden sich in der Linken die Geister. Den einen gilt er als modernisierter lateinamerikanischer Caudillo mit einer gewissen ­Schwäche für iranische Mullahs, den anderen als Protagonist eines »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«. Jedenfalls hat er es verstanden, seine Macht zu stabilisieren, nicht zuletzt dank der in den vergangenen Jahren munter spru­delnden staatlichen Erdöl­ein­nah­men.

Was aber denkt die kleine radikale Minderheit in Venezuela? Carlos Kunze fragte Pablo Martínez* und José Sanchez*.

Seit wann sind Sie politisch aktiv?

Pablo Martínez: Ich ging Anfang der sechziger Jahre in den bewaffneten Untergrund. Das heißt, tagsüber führten wir unser normales Leben fort. Gleichzeitig waren wir militant und illegal organisiert. Damals glaubten wir, dass wir irgendwann zu einer bewaffneten revolutionären Armee wachsen würden, die das reguläre Militär schlagen und die Macht übernehmen könne. Ein klassisches ML-Konzept eben. In den siebziger Jahren begannen wir, unser Augenmerk auf die Kämpfe der Lohnabhängigen zu lenken. Beispielsweise waren wir in der Textilindustrie aktiv, ließen uns aber weiterhin von der Vorstellung leiten, dass eine politische Avantgarde von außen die Kämpfe leiten könne. Ab Ende der siebzige Jahre zerfielen die bewaffneten Gruppen nach und nach, auch wenn wir bis Mitte der achtziger Jahre in der Illegalität blieben. Wir begannen, uns mit den antistalinistischen Traditionen der Arbeiterbewegung auseinanderzusetzen und kämpften als Lohnabhängige weiter, ich zum Beispiel als Lehrer. Die gewerkschaftlichen Institutionen lehnten wir allerdings ab und versuchten, Basisarbeit zu machen.

Wie ist Ihre politische Geschichte?

José Sanchez: Ich kam Anfang der siebziger Jahre zur politischen Bewegung, und zwar über eine Kooperative, die Geld und Kleinkredite verwaltete, eine Art alternativer Bank. Ich schloss mich ebenfalls dem Maoismus an, gab mein Studium auf und ging als Arbeiter in eine Fabrik von Ford, um dort illegale Propaganda zu machen. Ich wurde gefeuert und wechselte zu General Motors, wo ich bis zu meiner Verhaftung blieb. Nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis kam ich zu einer Keramikfabrik. Nach zwei Jahren wurde mir auch dort gekündigt. Ich bin eben kein guter Arbeiter. Seither bin ich im informellen Kleinhandel tätig.

Die Bewegung von Hugo Chávez beansprucht, das Erbe der venezolanischen Linken angetreten zu haben. Auf welche Teile der Bevölkerung kann er sich stützen?

Martínez: Diese Bewegung hat eine andere Geschichte, sie ist im Militär entstanden, selbst wenn es, insbesondere beim ersten Putschversuch Anfang der neunziger Jahre, auch Kontakte zu manchen politischen Gruppen gab, die den Guerillabewegungen entstammten und die Chávez als Bündnispartner betrachteten. Wir gehörten nicht dazu, weil wir der Überzeugung waren, dass aus einem Putsch keine Revolution erwachsen könne. Und einem Militär kann man grundsätzlich nicht trauen.

Doch das Militär und das Staatspersonal sind Chávez’ wichtigste Stützen. Zunehmend überschneidet sich beides, weil in wichtigen öffentlichen Ämtern immer mehr Militärs untergebracht werden. Der Staat ist der größte Arbeitgeber des Landes, und Chávez besetzt sämtliche öffentlichen Ämter, vom hohen Verwaltungs­beam­ten zum Pförtner, mit seinen Leuten, so dass er seine Unterstützer im Staats­apparat stetig vermehrt.

Welche Rolle spielen die »Misiones«, die staatlichen Sozialprogramme?

Sanchez: Sie schaffen eine gewisse Bindung der Leute an die Regierung. Das verwundert nicht, schließlich hat sich für viele die Gesundheitsversorgung gebessert. Außerdem gibt es im ganzen Land Tausende kleiner Läden, die subventionierte Lebensmittel verkaufen, welche aus der Ölrente finanziert werden.

Entsteht eine neue »chavistische« Bourgeoisie, wie in Venezuela teils behauptet wird?

Martínez: Auf jeden Fall, aber auch ein Teil der alten Bourgeoisie hat sich auf die Seite von Chávez geschlagen. Es herrscht eine widersprüchliche Situation. Einerseits hat er wirklich die Unterstützung der armen Bevölkerung. Andererseits sind die Leute eher dazu bereit, für ihre unmittelbaren Belange auf die Straße zu gehen. Doch die Kritik richtet sich gegen einzelne Minister, Bürgermeister oder Bürokraten, nicht gegen Chávez.

Sanchez: Die neue Verfassung bringt zumindest auf dem Papier eine größere Beteiligung der Bevölkerung. De facto wird aber vieles von Chávez bestimmt.

Die sozialen Auseinandersetzungen nehmen zu?

Sanchez: Es sind die kleinen Konflikte, die sich häufen. Allerdings fing dies nicht mit Chávez an, sondern mit dem Massenaufstand von 1989, bei dem einige tausend Menschen ums Leben kamen und in dessen Folge eine große Repression einsetzte. Damals wurden die demokratischen Strukturen zerrieben, ein Teil der Armee aber schreckte vor allzu harten Maßnahmen zurück. Ohne die damaligen Ereignisse ist der erste Putschversuch von Chávez und auch sein späterer Aufstieg nicht zu verstehen. Seit seinem Machtantritt hat die Bereitschaft der Leute zugenommen, für ihre Forderungen auf die Straße zu gehen.

Es kommt auch immer wieder zu ­Fa­brikbesetzungen.

Sanchez: Ja, vereinzelt, wobei sich die Forderungen der Bevölkerung in den vergangenen 40 Jahren kaum geändert haben. Nur die alten Gewerkschaften und Parteien, also jene Organisationen, die diese Konflikte immer entschärft haben, sind weitgehend zerfallen. Diese Funktion übernimmt inzwischen die »chavistische« Gewerkschaft. Die Besetzungen verlaufen in der Regel so, dass Arbeiter einen – zumeist bankrotten – Betrieb besetzen. Dann mischt sich der Staat ein und setzt eine institutionelle Lösung durch. Er kauft den Betrieb auf und schafft mit den »chavistischen« Gewerkschaften und Kooperativen ein gemischtes Unternehmen, in dem eine gewisse Mitbestimmung herrscht.

Welche Bedeutung hat die Opposi­tion?

Martínez: Die alte Bourgeoisie hat Chávez den Sieg leicht gemacht. Das Referendum von 2004, das er mit 60 Prozent der Stimmen gewann, war der letzte Schlag gegen die Opposition. Sie lebt nur noch von der Erinnerung an die Zeit, als sie eine Million Leute auf die Straße bringen konnte. Ein Teil der Opposition hat dazu aufgerufen, die Präsidentschaftswahlen im Dezember zu boykottieren. Sie hat keinen Kandidaten, der es mit Chávez aufnehmen könn­te. Daher herrscht eine paradoxe Situation: Zwar lässt die Begeisterung für Chávez allmählich nach, und trotzdem ist er stärker als je zuvor, weil er seine Macht im Staat gefestigt hat.

Wie würden Sie Chávez einordnen – als klassischen Caudillo oder als Protagonisten des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«?

Martínez: Mit seinem Militärgehabe erinnert er mich ein wenig an Juan Peron, wie dieser hat er etwas von einem Caudillo. Auch wenn er viel über Sozialismus redet – wie er auch sonst viel redet –, ist dies nicht sein eigener Diskurs.

Sanchez: Er ist ein guter Manipulator von Massen. Aber der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« ist ein Hirngespinst, es entsteht aus dem Wunsch nach einem gut funktionierenden Kapitalismus mit ein bisschen Sozialstaat im Sinne der europäischen Sozialdemokratie. Chávez glaubt, dass alle doch dasselbe Ziel hätten: nämlich wohlhabend zu sein. So aber denkt die Mittelschicht. Die Erfahrungen der Arbeiterbewegung, die Inhalte des Kommunismus sind ihm völlig fremd.

* Name von der Redaktion geändert