Verschwunden im Delta

Gegen die Separatisten in der ölreichen Deltaregion Nigerias hat die Regierung eine Militäroffensive ­angeordnet. Doch die Grenzen zwischen staatlicher und krimineller Gewalt sind fließend. von levin fücks

Es seien ihre Kämpfer gewesen, die die Geisel befreit hätten, behauptet die »Bewegung für die Emanzipation des Nigerdeltas« (Mend). Doch »auf dem Rückweg gerieten sie in einen Hinterhalt« der Regierungstruppen. Zehn Guerilleros und ein Soldat starben bei dem Gefecht am vorvergangenen Sonntag, der entführte Nelson Ujeya, ein nigerianischer Ölarbeiter, wird seitdem vermisst.

Allzu glaubwürdig ist die Darstellung der Mend nicht. Die Gruppe gehört zu jenem losen Netzwerk von Separatisten, die mit Geiselnahmen, Sabotage und Guerilla-Aktionen für die Abspaltung des ölreichen Nigerdeltas kämpfen. Peter Esele, der Präsident der Gewerkschaft Pengassan, vermutet jedoch, dass die Soldaten bei einer nigerianischen Geisel weniger Rücksicht nahmen, und macht die Regierung für das Schicksal Ujeyas verantwortlich.

Entführte Ausländer mussten bislang keine allzu große Sorge um ihr Leben haben. Einheimische spotten sogar, dass sie beim Aufenthalt in den Sümpfen die Gebräuche, Essgewohnheiten und Umgangsformen der lokalen Bevölkerung kennen lernen würden, zu der sie sonst kaum Kontakt haben. Den Geiselnehmern geht es um internationale Aufmerksamkeit für die desaströse Lage im Delta und um Lösegeldzahlungen. Schätzungen zufolge wurden in einigen Fällen zweistellige Millionenbeträge gezahlt.

Sicher ist, dass sich in den vergangenen Jahren eine lukrative Entführungsindustrie im Nigerdelta entwickelt hat. Die Grenzen zwischen staatlichen Institutionen und Guerillabewegungen sind dabei fließend. Alhajji Mujahid Dokubo-Asari, einer der bekanntesten Guerillaführer, ist derzeit inhaftiert, seinen Aussagen zufolge wurde er jedoch zeitweise von Shell und der Niger Delta Development Commission, einer von den Ölkonzernen und der Regierung finanzierten Organisation, für Wachschutzdiente bezahlt.

Die International Crisis Group (ICG) weist in einem kürzlich veröffentlichten Bericht zur Lage im Nigerdelta darauf hin, dass solche »Überwachungskontrakte« nicht ungewöhnlich sind: »In einigen Fällen werden finanzielle Beziehungen bei Treffen in Hotels eingegangen, die von den Ölfirmen einberufen wurden, um über Probleme zwischen den Unternehmen und den Communities zu diskutieren.« In mehreren Fällen wurden auch Sonderzahlungen und andere Zuwendungen der Konzerne für Polizisten nachgewiesen.

Die staatliche Verfasstheit ist lediglich eine mögliche Form von Kontrolle, Macht und Unterwerfung. Ein anonymer Beobachter verglich die Beziehungen zwischen den Gewaltakteuren im Delta mit »einer chronischen, parasitären Krankheit, die ihren Opfern Kraft entzieht, jedoch nicht so viel, dass sie sterben«. Tatsächlich haben viele Bewaffnete ein Interesse an der Erhaltung des profitablen Status quo, doch ist die Stagnation vor allem eine Folge der Unfähigkeit der Kriegsparteien, den Konflikt für sich zu entscheiden.

Die Separatisten, die die soziale Protestbewegung mittlerweile marginalisiert haben, kontrollieren die Gesellschaft über Clanbeziehungen und Ethnisierung. Einer Stärkung der Zentralgewalt und der Bürokratie stehen die Bewohner der Region jedoch skeptisch bis feindselig gegenüber, denn der Staat tritt nur als repressive Macht in Erscheinung.

Für die Zentralregierung sind die Kämpfe im Delta allerdings ein ernsthaftes ökonomisches Problem geworden. Die Unruhen hätten »eine andere Dimension angenommen, dies hat zum Rückgang der Ölproduktion um 600 000 Barrel pro Tag geführt«, erläuterte Präsident Olusegun Obansanjo in der vergangenen Woche dem Parlament. Bereits Mitte August hatte er eine Militäroffensive im Nigerdelta ausgerufen, deren erste Ergebnisse ihm nun ein neues Problem bescheren könnten. Denn nach den Kämpfen am Wochenende drohte die Pengassan, ihre Mitglieder würden die Deltaregion verlassen. Das könnte die Ölproduktion vollständig lahmlegen.