Italia – Germania 2:0

In seinem WM-Tagebuch berichtet der italienische Journalist Aldo Cazzullo über ein nur ­teilweise zivilisiertes Gastgeberland und weit mehr über Italien. von ambros waibel

Ob es stimmt, dass man in Düsseldorf am Sonntag nur in türkischen Restaurants zu Mittag essen kann? Nun, nicht einmal in meinem Berliner Kiez könnte ich eine entsprechen­de Adresse empfehlen, denn sonntags um die Mit­tagszeit schlafen die Deutschen entweder noch oder führen ihren Mägen Milchkaffee vermischt mit Nudelauflauf, Sekt und Schokohörnchen zu, diese schwer verdauliche Kombination, die sich Brunch nennt.

Aldo Cazzullo jedenfalls, 1966 in der Trüffel- und Partisanenstadt Alba geboren, Sonderkorrespondent des Corriere della Sera zur Fußball-WM in Deutsch­land, isst an diesem Tag in Deutschland Ravioli in abgelaufener Sahne und Kebab, trinkt mit Genuss einen Mokka, bekommt dann aber doch Lust auf einen Espresso und geht in die kalabrische Bar »Tre forze«, die sich rühmen kann, zur Stammbar der italienischen Nationalspieler von Gattuso bis Totti und Del Piero geworden zu sein. Das nächste Spiel geht gegen Deutschland, der Kellner spricht für die italienische Gemeinde: Ob Italien die WM gewinne, sei ihm egal, wenn die Azzurri nur die Deutschen besiegten.

Dabei, schreibt Cazzullo, sprächen die Italiener keineswegs schlecht von den Deutschen – schon gar nicht von den Frauen –, zu lange Zeit aber seien sie ausschließlich ihre Eisverkäufer und Pizzabäcker gewesen. Cazzullo schafft es dann, der schon tot zitierten Weisheit, dass nämlich die Deutschen die Italiener zwar lieben, aber nicht wertschätzen, wäh­rend die Italiener die Deutschen bewundern, aber nicht lieben, eine nette Wendung zu geben: Wenn sich dieser Gegensatz jemals auf­lösen lasse, dann sei Europa wirklich vereint – und »die wahrscheinlich langweiligste Gegend auf diesem Planeten«.

Aldo Cazzullos WM-Tagebuch, im August in Italien erschienen und durchweg positiv besprochen, stellt das Gastgeberland jedoch nicht in den Mittelpunkt. Eher beiläufig notiert er, dass die Angestellten seines Düsseldorfer Intercontinental-Hotels ermüdend lange das Internet durchforsten, um die Adresse eines Lokals oder einen Zugfahrplan zu eruieren, während in diesem Zeitraum »ein neapolitanischer Portier eine Hochzeit oder einen Putsch organisieren« könnte; Kaiserslautern wird rasch und treffsicher als – von Fritz Walter und Co. abgesehen – »geschichtsloses Loch« abgefertigt, zum als »deutsches Florenz« empfohlenen Heidelberg genügt ein »insomma« – naja.

Der neue Berliner Hauptbahnhof beeindruckt den Autor, aber er vermerkt auch, dass viele Brocken aus Glas und Stahl noch kein Stadtzentrum machen, dafür braucht es auch ein wenig Geschmack, lateinischen oder orientalischen, jedenfalls importierten.

Dass die WM einem neuen deutschen Nationalismus die Tür geöffnet hat, steht für ihn außer Frage: »Ein Land, das seinen Stolz wieder gefunden hat und nicht beabsichtigt, sich noch für irgend etwas zu schämen.« Abgesehen davon, dass der Nationalismus der anderen immer etwas Abstoßendes habe, sehe er jedoch keinen Grund, warum er Deutschland nicht zugestanden werden könne.

Der linksliberale Cazzullo, der sich in seinen Artikeln und Büchern kritisch auch mit der Resistenza auseinandergesetzt hat, gehört allerdings noch zu einer – der vermutlich letzten – Generation, deren historisches Bewusstsein weiter reicht als bis, sagen wir, 1989. Er sieht den Landwehr­kanal und denkt an Rosa Luxemburg, er betritt das Olym­piastadion als den Ort Hitlers und Brekers und nicht wie eine beliebige Arena. Er fühlt sich wohl und isst gut in Hamburg, in Köln, in Ber­lin, der Rest – »die Zivilisation in den kleinen Städt­chen … oh Heine«, schrieb einst Jörg Fauser.

Cazzullo ist von seiner Redaktion nicht nach Deutschland geschickt worden, um ein Porträt dieser in Italien immer noch als paese chiave, als Schlüsselland Europas geltenden, dabei weiterhin leicht unheimlichen Bundesrepublik abzuliefern – dazu reichte gerade einmal ein überliefertes Gespräch mit einem Einheimischen, noch dazu mit einem Taxifahrer (für Journalisten eigentlich verboten), auch nicht aus.

Er geht davon aus, dass Verlauf und Ergebnis einer WM ein Politikum sind, er will die Geschichte dieser speziellen italienischen Mannschaft erzählen und was ihr Abschneiden für Italien bedeutet, jenseits des von einem holländischen Wirtschaftsinstituts im Falle eines WM-Siegs prognostizierten Wachstums von 0,7 Prozent.

Deswegen sind seine Portraits der WM-Prota­gonisten – der grimmige Lippi, der zwielichtige Buffon, die noble Diva Del Piero, Totti (ein großer Spieler oder ein großer Spieler der AS Roma?), der überzeugte Argentinier Camoranesi, il cattivo Materazzi und immer wieder sein Liebling Gattuso – mit mal amüsanten, mal überraschend tiefgründigen Details, rückgekoppelt an den Liga­skandal in Italien, an die Nieder­lage Berlusconis im Verfassungsreferendum, an die Verhaftung des ehemaligen italienischen Thronfolgers und vieles andere mehr.

Obwohl Aldo Cazzullo sich als echten Fuß­ballexperten sieht, heuchelt er in Fernseh­interviews Laientum, um seiner Rolle als übergreifend berichtende Edelfeder gerecht zu werden, aber auch im Wissen, dass es in diesem Medium »verboten ist, länger als 20 Sekunden zu sprechen oder einen eigenstän­digen Gedanken zu äußern«. Den Erfolg der Azzurri sieht er letztlich als Zufall, als »exzentrische Episode«, dem starken Charakter des Trainers Marcello Lippi und der Geschlossenheit der Mannschaft, ihrem Hunger nach Erfolg zu verdanken und nicht einer echten Überlegenheit bei einem Turnier, das im Wesentlichen durch manchmal packenden, meist aber öden Kleinkrieg im Mittelfeld, durch Lattentreffer, Elfmeter und »gib mir lieber deine Schwester«-Provokationen entschieden worden sei.

In einem glanzlosen, fast schon deutschen Turnierverlauf, mit den Achtel- und Viertelfinalgegnern Australien und Ukraine und einem unguten Endspiel, gewinnt das klassische Duell mit Deutschland noch einmal zusätzlich an Bedeutung, ja, es gibt Cazzullos Aufzeichnungen sogar den Titel: »Italia – Germania 2 a 0« soll an die Stelle von Italia – Germania 4:3 in Mexiko 1970 und Italia – Germania 3:1 im Bernabeu-Stadion 1982 treten. Jedes dieser Spiele steht für eine Ära: den Beginn der politisierten und verrückten Siebziger; der Wende nach Terrorismus und Boom.

Cazzullo ist klug genug, mit dem WM-Sieg nicht das Ende der Ära Berlusconi zu verkoppeln, dessen endgültiges Ausscheiden aus der Politik ja ers­tens keineswegs feststeht, und den er zweitens zwar skeptisch, aber auch ohne Alarmismus beurteilt. Der großartige und hierzulande so gut wie unbekannte Schriftsteller Paolo Nori hat kürzlich daran erinnert, dass es Berlusconi war, der in einem seit seiner Gründung als Nationalstaat 1860 von der Rechten regierten Italien zweimal die Linke an die Macht gebracht hat – kein schlechtes Ergebnis für den Leibhaftigen der modernen Medien­welt.

Was der WM-Sieg für Italien bedeutet, wird man erst in der Rückschau ersehen, der Cazzullo mit seinem schönen Büchlein eine Erinnerungsstütze schafft. Für ihn persönlich wird der Sommer 2006 übrigens einfach der bleiben, »in dem wir noch jung waren, unsere Kinder uns noch nicht widersprachen, wir die WM noch mit unseren Eltern kommentieren konnten, und in dem wir, dank Gattuso, Grosso, Cannavaro und Materazzi, der Jungs aus dem Süden, Weltmeister waren«.

Aldo Cazzullo: Italia – Germania 2 a 0. Diario di un mese mondiale. Fazi, Rom 2006, 180 Seiten, 14 Euro