Von der Freiheit eines Muslims

Reform und Fundamentalismus von jörn schulz

Als »gestiftet vom Teufel« galt ihm das Papsttum, das Oberhaupt der katholischen Kirche nannte er »Esel«, »Spitzbube« und ein »lästerlich Lügenmaul«. Kein Mullah oder Ayatollah urteilte so, sondern Martin Luther. Von ihm stammt auch die prägnanteste Definition des religiösen Fundamentalismus: »Das Wort sollt ihr lassen stahn.«

Wenn Vorschläge unterbreitet werden, wie der Islam besser an demokratische Verhältnisse angepasst werden kann, steht die Forderung nach einer Reformation häufig an erster Stelle. Es ist jedoch fraglich, ob jene christ­liche Strömung, die lange Zeit auf wortgetreuer Befolgung der biblischen Gebote bestand und intoleranter war als der Katholizismus, wirklich vorbildlich sein kann. Weit eher mangelt es vielen Muslimen derzeit an katholischer Nonchalance, an der Fähigkeit, zu sündigen und sich darauf zu verlassen, dass ein barmherziger Gott die Dinge nicht so eng sieht.

Die Reformation hatte der Prophet Mohammed ohnehin gleich mitgeliefert. Ihr theologischer Kern, die Ablehnung eines Priestertums als Vermittlungsinstanz zwischen Gott und den Gläubigen, war ein zentraler Bestandteil der islamischen Botschaft. In einer Gesellschaft, in der sich die politischen Herrscher religiös legitimieren, bedeutet das allerdings auch, dass es keine einflussreiche Schicht gibt, die sich den Wünschen der Machthaber widersetzen könnte. Vergleichbar dem System der protestantischen Staatskirchen sind im orthodox-sunnitischen Islam die Theologen, Rechtsgelehrten und Prediger weisungsgebundene Staatsangestellte.

Der Islamismus ist eine Auflehnung gegen diese staatlich verordnete Religionsaus­übung, gewissermaßen eine zweite Reformation, die propagiert: »Das Wort sollt ihr lassen stahn«, die göttliche Botschaft darf nicht durch die Rücksichtnahme auf weltliche Bedürfnisse verwässert werden. Dieser reaktionären Rebellion durch ein Bündnis mit dem Staatsislam und konservativen muslimischen Verbänden entgegentreten zu wollen, führt bestenfalls zu müßigen Debatten über die korrekte Auslegung von Koranversen.

Die relativ weitgehende Säkularisierung Europas war kein Ergebnis theologischer Disputationen und wissenschaftlicher Debatten. Die Aufklärung, die zweite Maßnahme, die den Muslimen gern ans Herz gelegt wird, würde auch in den islamischen Ländern ein Spielfeld weniger Intellektueller bleiben, wenn sie nicht von radikalen gesellschaftlichen Veränderungen begleitet wird.

Erst die Französische Revolution brach die Macht der Kirche. Robespierre erklärte allerdings 1793 vor dem Konvent, die »Vorstellung eines Höchsten Wesens, das die unterdrückte Unschuld beschirmt und das triumphierende Verbrechen bestraft«, sei »Schrecken der Übeltäter« und »Halt und Trost der Jugend«, daher für den Erhalt der öffentlichen Ordnung unerlässlich. Auch im 21. Jahrhundert wünschen bürgerliche Politiker, Unruhestiftern wie den Schülern der Neuköllner Rütli-Schule Halt und Trost zu geben. Die Bestrebungen, islamische Organisationen zu integrieren, sind Teil des Versuchs, die Macht des Heiligen wieder verstärkt zu nutzen.

Im Kampf gegen Islamismus und religiöse Reaktion ist das wenig hilfreich. In islamischen Ländern ist die Religionskritik immer auch Staatskritik, die Säkularisierung ist ohne einen regime change, einen Sturz der Herrscher, die sich religiös legitimieren, undenkbar. Unter Migranten ist sie vor allem ein Kampf gegen autoritäre Familienverhältnisse, eine nachholende 68er-Bewegung gegen den Muff von 1 400 Jahren. In beiden Fällen wird die Kraft des besseren Arguments nicht genügen. Die Patriarchen in Staat und Familie müssen gezwungen werden, ihrer Macht zu entsagen.