Was hätte Sartre gesagt?

Die linksliberale Tageszeitung Libération steckt in einer schweren ökonomischen und publizistischen Krise. von bernhard schmid

Bettelbriefe an die Abonnenten, Appelle an die Stammleser, sich für den Erhalt der Zeitung einzusetzen, und ganzseitige Eigenanzeigen – solche Kampagnen gibt es nicht nur bei kleinen linken Zeitungen, deren ökonomische Not chronisch ist. Auch eine der fünf marktführenden Tageszeitungen Frankreichs greift jetzt zu solchen Maßnahmen. Schließlich hat das Blatt im ersten Halbjahr bereits über fünf Millionen Euro Verlust verbucht: Libération geht es wirtschaftlich schlecht.

Links war die Pariser Tageszeitung früher mal, sogar so richtig linksradikal, aber das ist schon längere Zeit her. So ungefähr 25 Jahre. Übrig geblieben ist eine zahme Kritik an den politisch Mächtigen, doch im Prinzip ist die Redaktion längst von der Notwendig­keit der Marktwirtschaft und der Unüberwindbarkeit des Kapitalismus überzeugt. Die wirtschaftlichen Probleme aber haben die Zeitung wieder ereilt. Gründe dafür gibt es viele: die harte Konkurrenz durch inzwischen drei kostenlose Tageszeitungen im Großraum Paris, das Internet, das man wohl unterschätzt hat, und teure Experimente wie die inzwischen eingestampfte Kino-Beilage.

Die Auflage ist mit 135 000 verkauften Exem­plaren im vergangenen Jahr stabil geblieben. In der Rangliste der auflagenstärksten überregionalen Tageszeitungen ist Libération hingegen vom dritten auf den vierten Platz gerutscht. Die als anspruchsvollere Boulevardzeitung aufgemachte, frühere Regionalzeitung Le Parisien-Aujourd’hui, die sich zum über­regionalen Blatt gemausert hat, hat Libération überholt.

Nunmehr verkündete der Hauptaktionär Edouard de Rothschild, der seit April vorigen Jahres knapp 39 Prozent der Kapitalanteile an der Tageszeitung hält, er wolle Libération eine »letzte Chance« geben. In der Redaktion hingegen hegt man seit längerem den Verdacht, dass der Verleger gar kein Interesse am Erhalt der Publikation hat – jedenfalls nicht am Fortbestand der Printausgabe. François Wenz-Dumas, oberster Repräsentant der Journalistengewerkschaft SNJ bei Libération, vertritt die Auffassung, dass der Hauptaktionär über seine letztjährige Einlage von 20 Millionen Euro hinaus nie ernsthaft habe in den Erhalt der Tageszeitung investieren wollen: »Das Einzige, was er möchte, ist, sich herauszuziehen, den Titel zu übernehmen und ihn im Internet zu vermarkten.«

Schwer zu sagen, ob dies stimmt. Fest steht jedoch, dass Libération seit dem Frühsommer 2006 erstmals in größerem Ausmaß ihr Internetgeschäft entwickelt hat. Bisher bekam man in der Internet-Ausgabe dieselben Texte zu lesen wie in der gedruckten Ausgabe, technisch und layouterisch war die Netz-Ausgabe eher anspruchslos. Jetzt soll die Online-Publikation technisch aufwändiger gestaltet und viele Inhal­te kostenpflichtig werden. Außerdem möchte man dort auch Texte abrufbar machen, die nicht in der Papierausgabe enthalten sind. Die weitaus kapitalkräftigere Pariser Abendzeitung Le Monde praktiziert dies schon länger und stellt etwa aufschlussreiche Graphiken zu aktuellen Geschehnissen oder kurze Videofilme von aktuellen Ereignissen – beispielsweise den Demonstrationen in der Hauptstadt im Frühjahr – zusätzlich zu den Artikeln ins Netz. Wer die Papierausgabe abonniert hat, kann sie kostenlos abrufen.

Am Mittwoch dieser Woche soll der Aufsichts­rat der Tageszeitung über den »Plan zur Neugründung von Libération« – wie Hauptaktionär de Rothschild ihn nennt – beraten, der als das Projekt der »letzten Chance« bezeichnet wird. Über den Inhalt ist bislang nichts Näheres bekannt. Redakteure und Journalistengewerkschaft befürchten jedoch einen Sozialplan und erneute Kündigungen. Die Rede ist momentan vom Abbau von 70 Stellen, bei insgesamt 285 Beschäftigten derzeit. Dadurch sollen die Schulden und Verluste der Zeitung reduziert werden, aber zugleich würde natürlich ihre Qualität darunter leiden.

Bereits in den letzten drei Monaten hat es erhebliche Veränderungen in der Tageszeitung, die einst – 1973 – als Projekt der maoistischen Linken gegründet und von dem radikalen Philosophen Jean-Paul Sartre unterstützt worden war, gegeben. Im Juni hatte Herausgeber und Mitgründer Serge July seinen Rückzug aus dem aktiven Pressegeschäft an­gekündigt. Allerdings ist er nicht freiwillig gegangen: »Edouard de Rothschild hat (den Geschäftsführer) Louis Dreyfus und mich selbst aufgefordert, die Zeitung zu verlassen. Wenn dieser Abgang die Neufinanzierung der Zeitung begünstigen kann, dann werde ich kein Hindernis darstellen«, erklärte July auf einer Redaktionskonferenz am 13. Juni.

Ein Nachfolger ist noch nicht bestimmt worden. Am 29. Juni wurde der Journalist Vittorio de Filip­pis für die Dauer eines Vierteljahres zum provisorischen Direktor ernannt. Aber Anfang Oktober wird sein Posten wieder vakant sein. Bis dahin wird man den Inhalt des »Rettungsplans« kennen, den der Hauptaktionär am Donnerstag vorletzter Woche in einem kurzen Kommuniqué in Aussicht stellte. Am selben Tag erschien eine ganz­seitige Selbstanzeige der Redaktion in Libération, in der die Leserschaft aufgefordert wurde, sich für den Erhalt der Publikation zu engagieren. Indirekt wurde darin auch Edouard de Rothschild an »seine Verantwortung« erinnert, das Blatt nicht unter­gehen zu lassen.

Gerüchteweise ist seit nunmehr drei Monaten von einer Übernahme des journalistischen Chefpostens durch Edwy Plenel die Rede. Der ehemalige Trotz­kist und linke Sensationsjournalist war einige Jahre lang Chefredakteur der liberalen Pariser Abendzeitung Le Monde. Doch im vorigen Jahr hat er im Streit Abschied genommen. Edwy Plenel war vom bürgerlich-wirtschaftsliberalen Herausgeber Jean-Marie Colombani regelrecht aus dem Blatt hinaus geekelt worden. Die Gerüchteküche begann in der vorigen Woche erneut zu brodeln, nachdem Vittorio de Filippis vor der Redaktionsführung verkündete hatte, er habe Edwy Plenel bereits zwei Mal getroffen und dieser sei an einer Mitarbeit »interessiert«.

Einige Redakteure des Blattes baten inzwischen darum, dass die »Gewissensklausel« in den Arbeitsverträgen in Kraft gesetzt wird. Diese juristische Bestimmung sieht vor, dass Journalisten sich im Falle eines Orientierungswechsels ihrer Zeitung auf ihre publizistischen Grundüberzeugungen berufen können. Wird die Klausel aktiviert, müssen die Journalisten nicht selbst kündigen, sondern wer­den vom Betrieb gekündigt und verlieren folglich nicht das Recht auf Abfindungen und auf Arbeitslosengeld. Am 7. September machten vier profilierte Journalisten von dieser Klausel Gebrauch und nahmen ihren Abschied von Libération. Neben Florence Aubenas, die von Januar bis Juni 2005 in irakischer Geiselhaft saß, gingen auch der bisherige Kulturchef Antoine de Baecque, die vor allem als Gerichtsreporterin bekannte Dominique Simmonot und der Journalist Jean Hatzfeld.

Ihnen gingen die Eingriffe des Hauptaktionärs in die Autonomie der Redaktion bereits zu weit. Faktisch dürfte es Edouard de Rothschild allerdings nicht um politische Einflussnahme gehen. Inhalt­liche Eingriffe sind für ihn Mittel zum Zweck, letzt­lich geht es ihm um die ökonomischen Perspektiven. Auch wenn der Bankierssprössling, der als das Original der Familie gilt, persönlich mit dem konservativen Innenminister und Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy befreundet ist, dürfte ihm die Linie der Zeitung zweitrangig sein.

Doch die zukünftige inhaltliche Orientierung bleibt offen. Auch Serge July, der in den späten sechziger Jahren die Revolution »für 1970 oder spätestens 1972« treffsicher prognostizierte, hat sich ja in dieser Hinsicht als ausgesprochen wand­lungsfähig erwiesen. Und was meinen die Leser? Auf der Homepage, wo binnen 24 Stunden 750 Antworten auf den Aufruf zur Rettung eingingen, meldeten sich Leser auch zu dieser Frage zu Wort. »Raus aus dem 68er Mief«, meinte der eine. »Wieder links werden«, empfahl ein anderer den Redak­teuren. Was hätte Sartre wohl dazu gesagt?