Das Wunder von Wien

Österreichs talentiertester Magazinmacher, Wolfgang Fellner, hat eine neue Tageszeitung auf den Markt geworfen. Sie heißt wie das Land selbst und ist auch so fad wie eben dieses. von martin schwarz

Spätestens im August musste auch der durchschnittlich medienresistente Österreicher bemerkt haben, dass dem Land Großes bevorsteht. Da nämlich tauchten massenweise Plakate auf, die einen leicht angegrauten sympathischen Mann zeigten, und daneben stand der Satz: »Ich habe einen Traum. Österreich wird neu.« Das Rätsel des kontinentaleuropäischen Martin Luther King war schnell gelüftet. Nicht um eine neue Bürgerrechtsbewegung ging es, nicht um eine neue Partei, nicht um einen Baukonzern. Sondern um eine Tageszeitung, natürlich eine völlig neuen Typs. Eine Tageszeitung, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Eine Tageszeitung – und das ist dann wohl auch die wesentlichste Innovation –, die sich keinen Kunstnamen gegeben hat, die nicht mit Anglizismen jongliert, sondern die tatsächlich Österreich heißt. Ein Land, zusammengepresst auf ein paar Dutzend farbiger Seiten. Das letzte Mal fiel so etwas der SED ein, als sie vor einigen Jahrzehnten eine Zeitung erfand, die Neues Deutschland hieß. Die gibt es noch immer, ist also irgendwie ein Erfolgsmodell.

Groß waren insbesondere die Erwartungen der Medienbranche. Was würde Wolfgang Fellner wohl aushecken – und könnte man gegen ihn überhaupt noch bestehen oder sollte man die eigene Tageszeitung am besten in vorauseilendem Gehorsam gleich einstellen? Alle zitterten, alle bebten, in Medienkreisen gab es kein anderes Thema.

Der Kurier, Österreichs drittgrößte Tageszeitung, die verzweifelt ihre Rolle zwischen schlechtem Boulevard und Qualitätsjournalismus sucht, präsentierte wenige Tage vor dem Start von Österreich eine Layoutreform. Auch andere Tageszeitungen sahen die Dämmerung ihrer wirtschaftlichen Existenz angebrochen, denn von Wolfgang Fellner weiß man, dass er im Mediengeschäft tatsächlich einen beinahe unfehlbaren Instinkt für die Bedürfnisse der Werbewirtschaft und der Leser hat. News, mittlerweile Österreichs größte Illus­trierte, hat er ebenso gegründet wie Woman, Österreichs größtes Frauenmagazin, und tv-media, Österreichs größte TV-Programmzeitschrift. Kurzum: Wo Fellner ist, da ist der Superlativ auch nicht weit. Was schon die Werbekampagne mit dem Martin-Luther-King-Zitat zeigte.

Wenige Tage vor dem erstmaligen Erscheinen des Blattes kam noch ein den Konkurrenzkampf verschärfender Faktor hinzu: Natascha Kampusch. In der Branche waberten Gerüchte von Redaktion zu Redaktion, wonach Fellner eine sechsstellige Summe für ein erstes Interview mit der gerade aus dem Privatknast Wolfgang Priklopils entflohenen jungen Frau hinblättern würde, um damit gleich den Knalleffekt für die erste Ausgabe zu fixieren. War aber nichts. Österreich, das wurde recht schnell klar, hat weniger mit einer Zeitung zu tun als mit einem Werbefolder für sich selbst. Überdies ist Österreich, was die wirklich relevanten Nachrichten angeht, gerne zwei bis drei Tage später dran als andere Medien.

»Die beste Zeitung. Zum besten Preis.« Diese Botschaft verfolgt den Leser durch die gesamte Zeitung. Gerade mal 50 Cent kostet eine Ausgabe und ist damit etwa halb so teuer wie andere Tageszeitungen im Land. Und was man alles bekommt: Der Hauptausgabe von Österreich sind täglich auch zwei Farbbeilagen beigefügt, die im Unterschied zum Hauptblatt in Hochglanz-Qualität gedruckt sind. »Life & Style« und »TV & People« heißen die beiden Mini-Magazine und sind so richtig was für den Hobby-Voyeur: hübsche Models, koksende Models (Kate Moss), trauernde Models (Anna Nicole Smith) und modelnde Mütter (Claudia Schiffer) zieren allzu oft die beiden Hochglanzprospekte.

Dass die Zeitung journalistische Schwächen hat, wird auch offenbar, wenn man die Artikel auf der dazugehörigen Website liest: Ein bisschen fade, oft von Agenturen übernommen und gespickt mit Grammatikfehlern kommen sie daher. Und das, obwohl Fellner rund 180 Redakteure und andere für die Produktion einer Zeitung unverzicht­bare Menschen eingestellt hat. Dazu gehören allerdings auch 55 Jugendliche, die ein paar Wochen lang durch Fellners »Journalistenakademie« gedreht wurden und nun Hilfsdienste verrichten. Auf Pressekonferenzen erkennt man die Österreich-Jugend recht gut: Knapp der Pubertät entwachsen, schüchtern in der letzten Reihe kauernd und jeden Satz fanatisch ins Notizbuch kratzend, sind sie für jeden Kollegen sofort erkennbar.

Wenn Anspruch und redaktionelle Wirklichkeit derart weit auseinanderklaffen wie bei Österreich, gibt es nur einen, der die Fähigkeit hat, die­sen Graben zu überspringen: Wolfgang Fellner himself. Und zwar durch seine tägliche Kolumne, die sich in regelmäßigen Abständen jenem Thema widmet, das ihn am meisten interessiert: er selbst und seine neue Zeitung.

Wenn Fellner schreibt, dann schreibt er den Erfolg wie eine tibetanische Gebetsmühle herbei: »Gestern zweiter Tag des neuen Österreich. Und zum zweiten Mal war die gesamte Auflage von 500 000 Stück in wenigen Stunden ausverkauft. Das ist das Fünffache (!) unserer Erwartung«, schrieb Fellner am 3. September. Anders ausgedrückt: Mehr als 100 000 verkaufte Exemplare erwartete er sich gar nicht. »Auf Anhieb hat das neue Österreich in der ersten Woche Tag für Tag mehr als 300 000 Zeitungen pro Tag verkauft. Das Doppelte (!) von dem, was wir uns erträumt und unseren Lesern und Werbekunden versprochen haben«, schrieb Fellner am 9. September.

Das lässt eigentlich nur zweierlei Schlüsse zu: Dass die Auflage von 3. auf 9. September von 500 000 auf 300 000 gesunken sein muss, dass aber gleichzeitig Fellners Erwartungsbarometer von ursprünglich 100 000 auf 150 000 verkaufte Exemplare hochfieberte.

Wenn das so weitergeht, wird das Fellnersche Erwartungs-Auflagen-Paradoxon bald ein Fixpunkt im Mathematikunterricht. Eine zu lösende Aufgabe für Abiturienten könnte dann lauten: »In welchem mathematischen Verhältnis steht die Auflage der Tageszeitung Österreich zu den Erwartungen ihres Herausgebers?« Die Antwort ist – grob geschätzt – einfach: Indirekt proportional stehen die beiden mathematischen Größen zueinander.

Ähnlich verhält es sich mit der Wahrheit im neuen Blatt: In einer der Ausgaben ließ Fellner Österreichs politische und wirtschaftliche Elite antreten, um in wenigen Zeilen der neuen Tageszeitung würdig zu huldigen und sie als große Errungenschaft für den Medienstandort Wien, die Pressefreiheit, den Weltfrieden und im Idealfall den Gleichklang der Gestirne zu preisen. So wurde auch TUI-Vorstandschef Franz Leitner mit Lobeshymnen auf die neue Zeitung zitiert. Doch Leitner hat einen entsprechen­den Leserbrief offenbar nie geschrieben. Aber so ist es wahrscheinlich, wenn man täglich aufs neue dem Erfolg hinterherpirschen muss: Man muss ihn herbeischreiben, wenn er nicht von alleine auftaucht.